Über die Hintergründe der neuesten türkischen Krise
Juni 2007/ Die Eskalation im Machtkampf in der Türkei war so sicher, wie das Amen in der Kirche. Mit einem Frontalangriff der türkischen Generäle in der Nacht vom 27. April 2007 begann ein Prozess, der am Ende das Land ins Chaos stürzen könnte. Interventionen und Putschdrohungen der türkischen Generäle sind allerdings wahrlich nichts Neues.
Neu ist nur die Form: Das scharf formulierte Ultimatum der Armeeführung kam ganz im Zeichen des Informationszeitalters per Internet und änderte schlagartig die politische Tagesordnung der Türkei.
Wer erwartet hat, dass der Prozess der Heranführung an die EU die Demokratisierung der Türkei voranbringen würde, dürfte nun bitter enttäuscht sein. Alleine der Umstand, dass eine nächtliche Putschandrohung eine solche enorme Wirkung hat, zeigt, dass die Türkei - trotz vom Westen gelobter Reformen - keinen Schritt voran gekommen ist.
Was war geschehen? Premier Erdogan, der sich seit längerem darüber im Klaren ist, dass er nicht selbst Staatsoberhaupt werden kann, zauberte als Überraschungskandidaten für das Amt des Staatspräsidenten Außenminister Gül aus dem Hut. Die größte Oppositionspartei, die kemalistische CHP, witterte ihre Chance und boykottierte die Wahlen im Parlament. Als die AKP-Mehrheit trotzdem den Wahlgang eröffnete, rief die CHP das Verfassungsgericht an. Am gleichen Tag, kurz vor Mitternacht, wurde auf den Internetseiten der Armee das Ultimatum veröffentlicht.
Daraufhin überschlugen sich die Ereignisse. Am 1. Mai 2007 erklärte das Verfassungsgericht wie erwartet, dass für die Wahl des Staatspräsidenten die Anwesenheit von mindestens 367 Abgeordneten zwingend notwendig sei. Die AKP konnte, auch beim zweiten Wahlgang nur 361 Abgeordnete mobilisieren. Das war das Signal für die vorgezogenen Neuwahlen. Am 3. Mai 2007 votierten 458 Abgeordnete dafür.
Die bürgerlichen Medien bewerteten diesen Beschluss als einen Ausweg aus der schwersten Staatskrise, in der das Land nun gefangen ist. Doch das scheint nur eine Wunschvorstellung zu sein. Man muss eher von einer "Ruhe vor dem Sturm" sprechen. Denn diese Krise hat offenbart, dass die Türkei von ihrer eigenen Vergangenheit eingeholt worden ist. Längst überwunden geglaubte Probleme sind aktueller denn je. Die Gesellschaft ist tief gespalten und das Land steht buchstäblich am Rande eines Abgrunds. Ob sie sich aus dieser Situation retten und den Weg zu einer bürgerlichen Demokratie finden kann oder aber sich in einen blutigen Bürgerkrieg hineinmanövrieren wird, werden die nächsten zwei Monate zeigen.
Warum hat die Armee interveniert?
Die Putschdrohung hat die AKP-Regierung und die wirtschaftliche Elite, die auf die AKP setzte, kalt erwischt. Sowohl Erdogan, als auch die Unternehmensverbände fühlten sich aufgrund der AKP-Parlamentsmehrheit und der Unterstützung durch die USA und die EU auf der sicheren Seite. Die neoliberalen Vorgaben von IWF, Weltbank und EU waren umgesetzt, das Land den Spekulationen der internationalen Finanzmärkte eröffnet und kosmetische Operationen in Sachen Demokratisierung vorgenommen. Es schien alles in Lot zu sein. Obwohl die oppositionelle CHP und nationalistische Kreise seit einem Jahr Kampagnen gegen einen Staatspräsidenten aus den Reihen der AKP führten, waren viele davon überzeugt, dass alles nach (AKP-)Plan laufen würde. Zudem wusste man, dass die Auseinandersetzungen um das Amt des Staatspräsidenten ein Nebenkriegsschauplatz war.
Allerdings handelt es sich um einen Nebenkriegsschauplatz mit hoher Symbolkraft. Der türkische Staatspräsident ist von Amts wegen der Oberbefehlshaber der Armee. Wichtige Ämter im Staat, wie Verfassungsrichter oder Mitglieder der Hochschulkommission, werden von ihm ernannt. Die Verfassung gibt dem Staatspräsidenten viele Kompetenzen, womit er zu einem Kontrollinstanz des Regimes wird und er sitzt dem übermächtigen Verfassungsorgan, dem "Nationalen Sicherheitsrat" vor. Eine symbolische Bastion des laizistischen Staates, der bis jetzt zu keiner Zeit aus der Kontrolle der Armeeführung entlassen wurde. Ein Islamist als Staatsoberhaupt wäre eine schwer zu schluckende Kröte für die Generäle.
Dennoch ist das Amt nur ein sekundäres Problem. Den Generälen geht es um den Status quo, also ums Regime und um ihre privilegierte Machtstellung im Staat, in der Politik und Wirtschaft. Wird diese Machtstellung auch nur angetastet, fliegen die Fetzen.
Die Generäle hatten ihre Intervention mit der "Gefährdung des Laizismus" begründet. Doch auch das ist ein Scheinargument, das der Mobilisierung der laizistischen Bevölkerungsteile dient – mit Erfolg, wie man an den Massendemonstrationen der letzten Wochen sehen konnte. Die militaristische Clique hat es mit der Hilfe der staatshörigen Medien geschafft, die Massen gegen die AKP-Regierung auf die Straße zu bringen.
Dabei waren es die Militärs selbst, die den laizistischen Grundkonsens gefährdet und den politischen Islam stets gefördert haben. In der jüngsten Geschichte der Türkei hat die Armeeführung drei Mal (1960, 1971 und 1980) die Macht gewaltsam an sich gerissen. Mehrere Male wurden Ultimaten gestellt oder gedroht, zu putschen. Erst vor einigen Wochen wurde ein geheimer Putschplan öffentlich. Doch kein einziges Mal waren die islamistischen Kräfte direkte Angriffsziele der Interventionen und Machtübernahmen. Es war die Militärjunta unter dem Diktator Evren, die nach 1980 die Zahl der Religionsschulen vervielfacht und Anhänger des politischen Islams in der Bürokratie in Amt und Würde gebracht hat.
Der politische Islam war stets als ein Gegengewicht gegen die aufkeimende Gewerkschafts- und linke Oppositionsbewegung und im Besonderen gegen die kurdische Bewegung gedacht. Auch bei der jüngsten Intervention geht es nur scheinbar gegen die Islamisten. So lange sie kontrolliert werden können, dürfen sie sich austoben und organisieren. Aber wehe, wenn sie so stark werden, so dass der Westen sie als einzigen Ansprechpartner ansieht.
Dreiteilung der Gesellschaft
Während die westlichen Medien nur den Laizismus-Aspekt in ihrer Berichterstattung berücksichtigt haben, wurden die eigentlichen Adressaten des Ultimatums - bewusst? - vergessen. Unmissverständlich hat die Armeeführung die gesamte kurdische Bevölkerung und die linke, sozialistische Opposition im Lande zu Staatsfeinden erklärt. Die Aussage im Ultimatum, dass "alle, die dem Verständnis 'Glücklich ist der, der sagen kann, ich bin Türke!' widersprechen, sind Feinde der Republik Türkei und werden es bleiben" ist eine offene Kriegserklärung.
Dies findet in der gespaltenen türkischen Gesellschaft fruchtbaren Boden. Seit mehreren Jahren wird eine rassistisch-nationalistische Stimmung geschürt. Ein Großteil der Bevölkerung in der westlichen Türkei ist offen kurdenfeindlich. KurdInnen, die aufgrund des Krieges im Südosten aus ihren Dörfern oder Städten vertrieben wurden, sind als ZwangsbinnenmigrantInnen im Westen unerwünscht. Die bewusste Ethnisierung der sozialen Frage und der Kriminalität in den Großstädten, das medial inszenierte Beschwören von Bedrohungsszenarien, Massenbegräbnisfeiern für gefallene Soldaten, an denen hochrangige Generäle und Offiziere teilnehmen, antiimperialistisch gefärbte Nationalismuspropaganda und die Stigmatisierung der kurdischen und linker Oppositionsparteien als "Separatisten" hat ein gesellschaftliches Klima erzeugt, das quasi in Lynchjustiz mündet.
Proteste gegen die Beisetzung erschossener "Terroristen" auf städtischen Friedhöfen, das Verjagen von kurdischen Saisonarbeitern und ihrer Familien aus den Städten, das Skandieren kurdenfeindlicher Parolen in Fußballstadien, Massenverprügelungen vermeintlicher "PKK-Anhängern", auch wenn es "nur" protestierende linke Studierende sind u.v.a.m. gehören zum Alltagsbild der heutigen Türkei. Ein Massenwahn, der sogar soweit geht, dass nun Bevölkerungsteile bewaffneten Kampfhandlungen mit PKK-Kämpfern als Zuschauer beiwohnen! So berichtete die Tageszeitung Hürriyet am 7. Mai 2007: "Über 1.000 Zivilisten haben in Hatay Soldaten, die auf der Terroristenjagd waren, angefeuert... Nach der Vernichtungsoperation haben Dorfbewohner die erfolgreichen Soldaten mit Lebensmitteln beschenkt." Bedarf diese Nachricht noch weiterer Kommentare?
Während 20.000 Mann starke Armeeeinheiten mit Unterstützung von Sikorsky-Kampfhubschraubern vier- bis sechsköpfige kurdische Guerillagruppen jagen und von "Vernichtungsoperationen" berichtet wird, versucht die einzige legale kurdische Partei DTP in Zusammenarbeit mit kleineren linken und sozialistischen Parteien, sich auf die vorgezogenen Neuwahlen vorzubereiten. Nach Presseberichten wird dabei die Unterstützung von unabhängigen KandidatInnen favorisiert.
In den kurdischen Gebieten sind die Vorbereitungen soweit vorangeschritten, dass in Wahlkreisen, in denen mindestens zwei KandidatInnen gewählt werden könnten, Frauen die/den einen und Männer die/den andere/n KandidatIn wählen sollen, um die Chancen zu vergrößern. Doch ob es dazu kommen wird, dass das kurdisch-türkische Wahlbündnis überhaupt unabhängige Mandate erringen kann, scheint zweifelhaft zu sein. Denn weder ist die sehr hohe 10%-Hürde gesenkt worden, noch ist die Zulassung von unabhängigen KandidatInnen sicher.
Zudem hat die türkische Armee mit ihrem "bewaffneten Wahlkampf" begonnen. Die massiven Militäroperationen und die mögliche Verhängung des Kriegsrechts im Südosten der Türkei werden den kurdischen Wahlkampf mehr als behindern. Schon jetzt gehen türkische Analysten davon aus, dass nach dem 22. Juli 2007 keine DTP-Abgeordneten im Parlament sitzen werden.
Linke in der Türkei sprechen heute davon, dass die politische Landschaft längst in eine türkische und kurdische geteilt ist. In den kurdischen Gebieten bemühen sie sich nicht mal um die Organisierung eigener Parteigliederungen. Auch die kurdische Bevölkerung im Südosten der Türkei scheint sich damit abgefunden zu haben. Zahlreiche in der Türkei geborene junge KurdInnen ziehen in den Nordirak, um dort auf kurdischen Universitäten zu studieren. Das kurdische Autonomiegebiet im Nordirak, reich an Erdölvorkommen und mit relativ hohem Pro-Kopf-Einkommen, hat für die kurdische Bevölkerung im unterentwickelten Südosten der Türkei eine hohe Anziehungskraft. Sowohl der Chef des Autonomiegebietes, Barzani, als auch der irakische Staatspräsident Talabani, selbst ein Kurde, sympathisieren offen mit der kurdischen Bevölkerung in der Türkei. Die DTP lässt die Sympathiebekundungen nicht unbeantwortet.
Diese, im Nordirak entstandene neue Situation, der Umwälzungsprozess im Nahen Osten und die langfristigen US-Pläne für die Region verschärfen so die Widersprüche der türkischen Machthaber. Daher spricht Armeechef Büyükanit in diesem Zusammenhang von der Gefährdung des strategischen Schutzes der territorialen Einheit des Landes und benennt im Unterton die USA als Schuldigen für diese Entwicklung.
Unverhohlen hatte Büyükanit sowohl bei seinem Washington-Besuch, als auch auf seiner Pressekonferenz am 12. April 2007 in Ankara, eine militärische Intervention in Nordirak gefordert. Verschiedene Tageszeitungen hatten danach über die Pläne, eine 400 km breite und 50 bis 60 km tiefe Pufferzone auf dem Staatsgebiet des Irak an der Grenze einzurichten, spekuliert. Dass derartige Pläne längst in den Schubladen der Militärs liegen, ist in der Türkei ein offenes Geheimnis. Allerdings ist noch nicht darüber entschieden, ob die Generäle das riskieren wollen.
Die Politik der letzten zwei Jahrzehnte und die jüngsten Entwicklungen haben einen tiefen Spalt zwischen den kurdischen und den übrigen Teilen der Bevölkerung der Türkei entstehen lassen. Aber nicht nur diese Spaltung zerrüttet die gesellschaftlichen Fundamente. Es geht eine weitere Spaltung, ein kultureller Riss durch die Mitte dieser Gesellschaft, die zu kitten, große Energien erfordern wird. Dabei handelt es sich um die sich zusehends verschärfenden Frontstellungen zwischen zwei Bevölkerungsteilen, deren Lebensgeschichten, Auffassungen und Traditionen grundverschieden sind.
Auf der einen Seite steht ein Teil der türkischen Bevölkerung, der sich seit der Gründung der "modernen" Türkei von den Eliten benachteiligt fühlt. Das sind Menschen, die zumeist aus den anatolischen Gebieten stammen, die eine konservative, türkisch-islamische Weltsicht haben, inzwischen über größere ökonomische Ressourcen verfügen und die neue Mittelschicht ausmachen. Gemeinsam mit den weiten Teilen der "Unterschicht" bilden sie die Wählerschaft der AKP und sind als solche eine nicht zu unterschätzende politische Kraft geworden. Diese heterogene Gruppe ist geeint in dem Willen, gegen den als paternalistische Bevormundung verstandenen Laizismus vorzugehen und mit der Hilfe der neuen Politikerklasse aus den eigenen Reihen ihren "Anteil" an den politischen und wirtschaftlichen Ressourcen des Landes einzufordern.
Auf der anderen Seite stehen die alten "modernen" Mittel- und Oberschichten. Dabei handelt es sich um eine westlich orientierte Gruppe, die sich stets als aufgeklärte Türken definiert hat und sich vom Erstarken der AKP in ihrer Lebensweise bedroht fühlt. Diese, von Teilen der türkischen Linken als "weiße Türken" oder "die türkische Schweiz" bezeichnete Gruppe setzt gegen die "antilaizistische Gefahr" auf die Macht der Armee und des Regimes. Das kommt auch nicht von ungefähr, denn ein Großteil der Richter, Staatsanwälte, Offiziere und der Bürokratie stammt aus der Gruppe der "weißen Türken".
In den Auseinandersetzungen der letzten Wochen hat sich das Paradoxe dieser Spaltung offenbart: während die westlich orientierten, laizistischen "weißen Türken" sich von den Werten der westlichen Demokratie abwenden und teilweise mit nationalsozialistisch anmutenden Parolen sich noch stärker an das militärische Vormundschaftsregime festklammern, setzen die nichtwestlich orientierten Schichten auf die Stärkung der parlamentarischen Demokratie, weil sie nur so eine Chance sehen, ihre wirtschaftlichen und politischen Interessen zu schützen. Daher ist es kein Zufall, wenn sich die islamische AKP in ihrer politischen Ausrichtung als europafreundlichste Partei präsentiert.
Das Scheitern der Demokratie á la Turk
Diese Dreiteilung der türkischen Gesellschaft, gepaart mit der Unfähigkeit der Politik, wenn auch nur minimale demokratische Lösungen zu präsentieren, macht aus der Türkei ein Pulverfass, das durch einen kleinen Funken hochgehen und die gesamte Region in einen Flächenbrand versetzen kann. An dieser Situation haben die Parteien im Parlament eine gehörige Mitschuld.
Sowohl die Regierungs- als auch Oppositionsparteien haben sich davor gescheut, die von der Militärjunta 1982 durchgesetzte antidemokratische Verfassung so zu ändern, dass damit die Entwicklung einer bürgerlichen Demokratie möglich geworden wäre. Sämtliche "demokratischen Reformen", die im Rahmen der EU-Beitrittsverhandlungen umgesetzt wurden, haben am Kern der Verfassung, aus der die Militärs ihre Macht schöpfen, nichts geändert.
Im Gegenteil: Lange glaubten Erdogan und die AKP, dass sie an der Macht teilhaben konnten, wenn sie die Machtverhältnisse nicht antasten. In der Kurdenfrage setzte die AKPstatt auf Dialog und politische Lösung auf Eskalation. Ihr Regierungshandeln war wesentlich von einer neoliberalen Wirtschafts-, Steuer- und Finanzpolitik, massivem Sozialabbau, Maßnahmen zur weiteren Schwächung der Gewerkschaften und der Verschärfung von innenpolitischer Repression geprägt. Während sie, wie am 1. Mai 2007 in Istanbul, mit Polizeigewalt Gewerkschaften, soziale Bewegungen und linke Oppositionsgruppen bekämpften, provozierten sie mit einer ignoranten und parteiischen Personalpolitik in der Bürokratie, laizistische Abwehrhaltungen.
Auch nach der Intervention der Generäle demonstrierte die AKP-Regierung ihre Unfähigkeit. Der nationalistischen und rechtspopulistischen Haltung der Oppositionsparteien hatte sie nichts anderes entgegenzusetzen als von kurzfristigen Machtinteressen geleitete Wahlrechts- und Verfassungsänderungen. Obwohl der amtierende Staatspräsident nach dem geltenden Recht diese Verfassungsänderung ablehnen muss, hat die AKP-Mehrheit die Wahl des neuen Staatspräsidenten durch das Volk beschlossen. Die 10%-Hürde jedoch bleibt weiterhin bestehen. Eine Konsensfindung im Parlament scheint - außer in der Frage der vorgezogenen Neuwahlen - praktisch nicht möglich. So tritt die Türkei in einem polarisierten und vergifteten Klima in die Phase der Neuwahlen.
Was wird/könnte geschehen?
Aufgrund der vorgezogenen Neuwahlen sind sich viele politische Beobachter einig: "Eine weitere Eskalation der militärischen Einflussnahme ist nicht zu erwarten". Das trifft wohl zu - aber nur bis zum Wahltag. Was danach passieren wird, hängt vom Wahlausgang ab. Derzeit zwingt die 10-Prozent-Hürde zu Parteifusionen. Im rechten Spektrum haben sich die Parteien DYP und ANAP zur "Demokratischen Partei" zusammengeschlossen. Die CHP fusioniert mit der Partei des verstorbenen Bülent Ecevit. Die neofaschistische MHP wittert aufgrund der angeheizten nationalistischen Stimmung neue Chancen. Und der mächtige Unternehmerverband TÜSIAD geht nach der Kritik der Generäle an der AKP auf Wartestellung.
In dieser Situation wird es für die AKP schwer, ihr Wahlergebnis von 2002 zu halten. Unmöglich ist das aber nicht. Auch wenn die "weißen Türken" auf eine Regierung ohne die AKP hoffen, könnte diese Hoffnung nur im Falle des Einzugs einer vierten Partei in Erfüllung gehen. Falls ein Bündnis von unabhängigen kurdischer und linker Abgeordneten in das Parlament einziehen sollte, könnten es das Zünglein an der Waage werden, was aber von den Militärs als Super-GAU bewertet wird. Wie auch immer die Wahlen am 22. Juli 2007 ausgehen werden, demokratisch und gerecht werden sie auf keinen Fall sein.
Und die Generäle? Es gibt viele innen- und außenpolitische sowie strategische Faktoren, die das weitere Handeln der Armeeführung beeinflussen. Der Machterhaltungswillen ist wohl die größte Motivation. Daher bin ich, entgegen der herrschenden Meinung der Auffassung, dass sich die türkische Krise noch in diesem Jahr verschärfen wird. Die Generäle haben sich zu weit aus dem Fenster gelehnt und verfügen über eine militante zivile Struktur, so dass ein Zurückweichen insbesondere in der Kurdenfrage nicht wahrscheinlich erscheint. Auch die kurdische Bevölkerung ist nicht mehr gewillt, wie bisher regiert zu werden. Wenn ihnen mutwillig der Weg ins Parlament wieder versperrt werden sollte, werden sie sich wahrscheinlich dem bewaffneten Widerstand zuwenden. Das würde eine weitere Eskalationsstufe bedeuten, die Auswirkungen in der gesamten Region, aber auch in Europa hätte. Dann erwarten uns blutige, kriegerische Jahre, was nicht zu wünschen ist.
Aus der Zeitschrift »Sozialismus« 06/2007