Wer am Ende des Beitrittsprozesses de Demokratisierung der Türkei erwartet, täuscht sich
Oktober 2005/ Trotz innenpolitisch motivierter »Kulturkampfgetöse« der konservativen Kreise in der EU, ist das, was erwartet worden war, auch eingetroffen. Die Verhandlungen über die Aufnahme der Türkei in die EU haben begonnen. Wer durch den dicken Nebelschleier des Nebenkriegsschauplatzes »pro und contra Debatte« die wahren Motive dieses Expansionsvorhabens erkennen konnte, dürfte nicht überrascht sein. Nun beginnt ein Prozess, an dessen Ende die Mehrheit der Bevölkerungen in Europa und in der Türkei die Knallhartvariante des Neoliberalismus und Militarismus erleben werden. Wenn nicht dagegen entschieden Widerstand geleistet wird.
Die Streitigkeiten zwischen den Befürwortern der EU-Mitgliedschaft und den Verfechtern einer »privilegierten Partnerschaft« sollten nicht darüber hinwegtäuschen, dass beide Lager die gleichen Ziele verfolgen. Die Konservativen drücken sich nur von den Lasten der Transferleistungen und der Mitbestimmung bei der ESVP. Beiden Lagern geht es um den freien Zugang zu Märkten, Rohstoffquellen, billigen Produktionsstandorten und um geostrategische Interessen im Sinne des Zugriffes auf die Energiereserven des kaspischen Beckens sowie des Nahen Ostens. Kurz um, es geht um die Expansion Kerneuropas im Interesse der transnationalen Konzerne.
Und eben diese Ziele sowie die Heranführung der Türkei an die EU müssen im engen Zusammenhang mit der eigentlichen Zielsetzung Kerneuropas, eine Weltmacht zu sein, gesehen und bewertet werden. Nicht umsonst wurde in der Lissabon-Agenda formuliert: »Es gilt die EU zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten Wirtschaftsraum der Welt zu machen«. Aus diesem Grund wird versucht, die EU zu einem hochgerüsteten und interventionsfähigen Militärbündnis auszubauen. Eine militärisch potente Regionalmacht wie die Türkei als »Stabilisierungsfaktor in einer Region der Instabilitäten« ist dafür unverzichtbar.
Wer diese Motive erkannt hat, ärgert sich umso mehr, wenn gerade linke PolitikerInnen auf die Demagogie der »Demokratisierungsabsichten der EU« hereinfallen. Sogar KurdInnen befürworten die EU-Mitgliedschaft, weil sie sich demokratische Rechte und Wohlstand erhoffen. Dabei müssten gerade sie am besten wissen, dass die »kurdische Karte« immer dann ausgespielt wird, wenn der Türkei noch mehr neoliberale Diktate aufgezwungen werden sollen. Es ist mehr als naiv zu glauben, dass eine EU, deren Institutionen weitgehend entdemokratisiert sind, die mit Richtlinien und Verordnungen die Mitgliedsstaaten zum Abbau von demokratischen und sozialen Rechten zwingt und im Namen des »Kampfes gegen den Terror« Bürgerrechte aushebt, für mehr Demokratie und Menschenrechte in der Türkei sorgen würde. Alleine der Umgang der EU-Mitgliedsstaaten mit ihren Minderheiten zeigt, wie trübe diese Hoffnung ist.
Die Interessen der europäischen und türkischen Eliten decken sich. Diese stehen im krassen Widerspruch zu den Interessen der Bevölkerungsmehrheit. Denn in einer EU, die zunehmend en Europa des Neoliberalismus, des ungezügelten Sozialabbaus und Militarismus wird, werden die Interessen der Menschen auf der Strecke bleiben. Eine Türkei als Mitglied einer solchen EU wird nicht in der Lage sein, eine unabhängige Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik zu gestalten. Sie wird nicht in der Lage sein, ihre strategischen Güter zu schützen und ihre Reichtümer für die mehr als notwendige Investitions- und Beschäftigungspolitik einzusetzen. Und sie wird nicht in der Lage sein, sich aus der erdrückenden Umklammerung des internationalen Kapitals zu befreien.
Sich einer solchen Entwicklung entgegen zu stellen und ein »anderes Europa«, ein Europa der sozialen Gerechtigkeit, der Demokratie und des Friedens aufzubauen, als dessen Teil eine demokratische Türkei herzlich willkommen ist, muss als die wichtigste Aufgabe der politischen Linken in Europa verstanden werden. Dafür müssen wir unsere Hausaufgaben erledigen und die demokratischen und progressiven Kräfte der Türkei in ihrem Bemühen für eine echte Demokratisierung des Landes auf gleicher Augenhöhe unterstützen.
Aus: Neues Deutschland vom 7. Oktober 2005