Gedenkfeier an den Völkermord im Osmanischen Reich 1915
Grußadresse des Europäischen Friedensrats Türkei / Kurdistan
von Murat Cakir, Sprecher des EFT/K
Hauptkirche St. Petri Kirche, Hamburg, den 24. April 2010
April 2010/ Es ist wahrlich nicht einfach, an einem solchen Gedenktag die richtigen Worte zu wählen, aber dennoch eine ehrenvolle Aufgabe, zu Ihnen sprechen zu dürfen. Daher möchte ich meinen Dank an die InitiatorInnen der Veranstaltung aussprechen und mein Haupt vor dem Andenken der Opfer des Aghet, der großen Katastrophe des armenischen Volkes in Demut verneigen.
Gleichzeitig möchte ich im Namen des Europäischen Friedensrates Türkei / Kurdistan, aber auch persönlich, um Verzeihung bitten. Nicht wegen der verabscheuungswürdigen Tat, die unsere Vorfahren begangen haben oder mindestens nicht zu verhindern vermochten. Es gibt nichts, absolut nichts, was den Völkermord an den Armeniern im Osmanischen Reich rechtfertigen könnte. Dieser verbrecherischen Tat kann und darf nicht vergeben werden. Es ist und bleibt ein Genozid, dessen Erinnerung untilgbar in das Gedächtnis der Menschheit, gar in unsere Seelen eingebrannt ist.
Um Verzeihung will ich bitten, weil wir, die demokratischen und fortschrittlichen Kräfte der Türkei, viel zu lange Stumm waren und viel zu lange geschwiegen haben. Weil wir der nationalistisch-chauvinistischen Staatspropaganda Jahrzehnte lang keinen wirksamen Widerstand entgegengesetzt und, um es mit den Worten von Rakel Dink, der Witwe des 2007 ermordeten Journalisten Hrant Dink zu sagen, es zugelassen haben, dass »aus Babys Mörder gemacht werden konnten«. Und weil wir viel zu lange die Tatsache verdrängt haben, dass Schweigen – selbst nach 95 Jahren – Mitverantwortung bedeutet und ohne eine angemessene Aufarbeitung der Geschichte unsere Gegenwart in Zukunft weiterhin eine belastende Vergangenheit werden kann.
Die anatolisch-mesopotamische Tragödie, die Tragödie der aramäischen, armenischen, griechischen, kurdischen, aber auch der türkischen Völker, die allesamt Leidtragende der werdenden Nationalstaaten des letzten Jahrhunderts sind, kann durch Schweigen nicht ungeschehen gemacht werden. Und wer denkt, das sei Vergangenheit und nur mehr die Sache der Historiker, der irrt. Denn jede Debatte über historische Ereignisse wird weiterhin auf der Grundlage politischer und wirtschaftlicher Interessen gegenwärtiger gesellschaftlicher Kräfte geführt.
So ist es kein Zufall, wenn heute Teile der Zivilgesellschaft der Türkei sich in die kontroverse Debatte über den armenischen Völkermord mutig einmischen. Unlängst werden auch in der Türkei Stimmen lauter, die eine offene Debatte und eine schonungslose Aufarbeitung dieses Verbrechens fordern. So stehen auch heute viele Menschen mitten in Istanbul, um unter der Losung »Dies ist unser Schmerz« an den Völkermord zu erinnern.
Doch selbst wenn diese Entwicklung Mut macht und die zaghaften Demokratisierungsschritte der türkischen Regierung sowie Normalisierungsversuche in den armenisch-türkischen Beziehungen einige Hoffnungsschimmer aufkommen lassen, kann dennoch von einer Vergangenheitsbewältigung auf der Grundlage der Menschlichkeit und Gerechtigkeit kaum die Rede sein. Noch sind die Entscheidungsträger sowie große Teile der Gesellschaft in der Türkei nicht willens und fähig, sich ihrer historischen Verantwortung zu stellen. Noch hält sie der Pesthauch des Nationalismus und Chauvinismus als Geisel fest im Griff. Noch vernebelt die Staatspropaganda einen klaren Blick in die dunklen Kapitel der eigenen Vergangenheit.
Deshalb ist es wichtiger denn je, wenn zivilgesellschaftliche Kräfte in der Türkei sich das Thema parteiisch aneignen. Denn eine unparteiische Haltung gegenüber dem Genozid wird selbst zum Unrecht. Es ist an der Zeit, ja gar überfällig, dass die Gesellschaft in der Türkei sich der Tatsache bewusst wird, dass ohne die Anerkennung der Gräuel im Osmanischen Reich und der historischen Verantwortung ein Frieden im Land – geschweige denn mit Nachbarländern unmöglich sein wird.
Ohne Zweifel: die Bemühungen der demokratischen Kräfte der Türkei zur Anteilnahme an dem Schmerz des armenischen Volkes sind zu begrüßen. Auch ihr Einsatz für Demokratisierung, Gerechtigkeit und Frieden. Aber gerade dieser Einsatz gebietet eine Parteinahme zugunsten der Opfer und eine unverrückbare Politik aus deren Perspektive. Jetzt »zu sagen, was es ist« und war, ist das Gebot der Stunde.
Und zu fragen: War die ethnische Säuberung Anatoliens nur ein verbrecherischer Akt der Staatseliten oder haben sich erhebliche Teile der muslimischen Bevölkerung daran beteiligt? Wer hat sich was angeeignet und wer sich daran bereichert? Wie ist das türkische Bürgertum entstanden? Wie konnten einzelne Familien zu Besitzern international tätiger Großkonzerne aufsteigen? Auf was gründet sich der Reichtum des armeeeigenen Konzerns OYAK, und wem gehörten die Liegenschaften und Immobilien, die heute im Besitz der türkischen Armee und von Staatsunternehmen sind? Und was ist mit dem Besitz der vertriebenen anatolischen Griechen passiert?
Sicher, das sind allesamt unbequeme Fragen. Aber die notwendige Aufarbeitung der Vergangenheit bedarf deren Beantwortung. Und es sind keine Geringeren aufgefordert als die demokratischen Kräfte der Türkei, dieser Aufgabe gerecht zu werden. Wer in Demokratie, Gerechtigkeit und in Frieden leben will, muss zuerst mit der offiziellen Geschichtsschreibung brechen und dafür sorgen, dass die Wahrheit ans Tageslicht gebracht wird. Es sollte auch nicht vergessen werden, dass die offizielle Geschichtsschreibung eines der wesentlichen Hindernisse der Demokratisierung darstellt.
Die türkische Regierung bleibt weiterhin aufgefordert, den Völkermord an Armeniern anzuerkennen und ihre aktuelle diskriminierende Politik gegenüber armenischen MigrantInnen in der Türkei zu beenden. Wer wie der Regierungschef Erdogan Zehntausenden armenischen MigrantInnen die Ausweisung androht und mit nationalistischer Hetze ein Klima der Feindschaft fördert, der hat das Recht verwirkt, sich als Demokrat zu bezeichnen.
Aber auch jene westlichen Regierungen wie die Bundesregierung sollten daran erinnert werden, dass sie mit der Unterstützung der Leugnungspolitik keinen Beitrag zur Aufarbeitung dieses Verbrechens leisten. Gerade die Mitschuld Deutschlands an dem Völkermord 1915 und erst recht die Erfahrung mit dem Holocaust verpflichtet Deutschland zu einer unmissverständlichen Positionierung. Es wäre zu begrüßen, wenn der Deutsche Bundestag endlich dem Beispiel anderer Parlamente folgen würde. Aber solange Deutschland sich vor dieser Verantwortung drückt, solange wird sie sich den Vorwurf gefallen lassen müssen, dass ihre Regierungen immer noch an der Linie festhalten, wie seiner Zeit die kaiserliche Regierung und Militärführung Deutschlands: Nämlich an dem Vorrang von wirtschaftlichen und strategischen Interessen, »gleichgültig, ob darüber Armenier zu Grunde gehen oder nicht«, wie Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg im Dezember 1915 bemerkte.
Liebe armenische Schwestern und Brüder!
Die türkei- und kurdischstämmigen Mitglieder des Europäischen Friedensrats Türkei / Kurdistan teilen Ihren großen Schmerz. Mit tiefer Trauer und Wut im Bauch wollen wir die Leugnungspolitik des türkischen Staates nicht mehr hinnehmen und all unsere Kraft einsetzen, damit die Völker ihre eigene Geschichte selbst schreiben können.
Wie heißt es so schön in einem Kanon: »Wenn viele kleine Menschen, in vielen kleinen Orten, viele kleine Schritte tun, dann können sie das Gesicht dieser Erde verändern«. Getreu diesen Worten reichen wir Ihnen in Freundschaft, aufrichtiger Anteilnahme und im Geiste der Geschwisterlichkeit unsere Hände, damit wir gemeinsam das Gesicht dieser Erde verändern können.
Wir reichen Ihnen unsere Hände, damit wir den nachfolgenden Generationen den Aufbau einer friedlichen, gleichberechtigten und gerechteren Zukunft in Würde ermöglichen und wir alle erhobenen Hauptes sagen können: Nie wieder Krieg! Nie wieder Völkermord!