Über die Gefahren der neuen türkischen Krise.
Februar 2007/ »Die Türkei steht vor großen Problemen – vor derart hohen Risiken und Bedrohungen, wie nie zuvor seit 1923. (...) Die territoriale Einheit Iraks ist gefährdet. Niemand kann es abstreiten, dass im Norden Iraks eine terroristische Organisation vorhanden ist. Das ist ein Problem der Türkei. Der Kaukasus ist eine Region der potentiellen Risiken. Wir wissen nicht was Morgen passieren kann. Unsere Grenze zu Iran ist auch ein potentielles Risikogebiet. Vor so vielen Problemen stand die Türkei noch nie in der Geschichte der Republik. (...) Niemand, auch keine Institution wird es bewerkstelligen, die Türkei außerhalb ihres, durch die Verfassung bestimmten Regimes herausdrängen.« [1]
In der Tat, der Viersternegeneral Yasar Büyükanit hat Recht: die Türkei und somit die gesamte Region steht vor einer höchst gefährlichen Situation. Alle Probleme, die kurz vor und nach der Gründung der Republik Türkei im Jahre 1923 das Land erschüttert haben, stehen heute aktueller denn je wieder auf der Tagesordnung. Ob aber diesmal die Völker Anatoliens relativ friedlich unter dem Dach der Republik leben werden können, scheint zweifelhaft zu sein.
Unzweifelhaft ist es jedoch, dass die Türkei sich auf dem Weg zu einer schwersten Krise ihrer Geschichte befindet. In den Strukturen des Staates und der verfassungsrechtlich institutionalisierten Zweiteilung der staatlichen Macht bilden sich Risse, die nicht mehr gekittet werden können. Die politischen, wirtschaftlichen und militärischen Eliten haben Angst. Angst vor den Dynamiken, die sie nicht mehr kontrollieren können. Es besteht die Gefahr einer irrationellen Handlung der Entscheidungsträger, die zu einem Flächenbrand in der Region mit Auswirkungen auf Europa führen können.
Vom Stabilisierungsfaktor zum Bedrohungspotential
Lange Zeit galt die Republik Türkei mit ihrem laizistisch – muslimischen Bevölkerung und ihrer formalen Demokratie als ein »Faktor der Stabilität in einer Region der Instabilitäten« (Schröder). Insbesondere Kerneuropa hegte die Hoffnung, dass die militärisch potente Türkei zum Beschützer der »neuen Interessen« Europas werden könnte. Die selbstbewusste Forderung der türkischen Armeeführung nach gleichberechtigter Teilhabe an der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik und ihre strategische Partnerschaft mit den USA und Israel führten zu Interessenskonflikten und schufen schwer überwindbare Widersprüche. Daher wurde speziell für die Türkei ein »Heranführungsprozess in die EU« erfunden. Damit sollte sowohl die Türkei, als auch die EU für die Aufnahme »hergerichtet« werden.
Doch nun scheint es so, dass der Heranführungsprozess eine andere Richtung einschlägt, als erwartet. Die Ermordung des armenischen Journalisten Hrant Dink und die dadurch ausgelösten Debatten offenbaren, dass die Entscheidungsträger der Türkei, hier im besonderen die Militärischen, nicht mehr gewillt sind, dem Weg in die EU weiter zu folgen. Dafür gibt es mehrere Gründe.
Erstens, die schwere Zerrüttung im Machtgefüge des Staates. Schon bei dem Übergang zum Nationalstaat begann die Besonderheit des türkischen Kapitalismus. Entgegen der nationalstaatlichen Entwicklung in Europa, dem Geburtsort der Moderne und der Aufklärung, stand zu Beginn fest, dass der türkische Nationalstaat nur die Weiterführung des »Heiligen Staates« sein wird. Das »moderne« der neuen Türkei hatte im Dienste des »alten Staates« zu stehen. Die militärischen Eliten ließen keinen anderen Weg zu.
Die Jungtürken um Enver und Talat, die sich zuerst als eine illegale »Gemeinschaft« organisiert hatten, hatten 1908 nach einem Putsch den Sultan gezwungen, die sog. II. Konstitutionalismus –Erklärung zu unterzeichnen. Ihre »Partei für Einheit und Fortschritt« (Ittihat ve Terakki) blieb trotz der von ihnen gestellten Regierung im Untergrund. Die neue herrschende Clique wollte den »Heiligen Staat« retten, wenn auch vor dem schwachen Sultan und verfolgte eine panturkistische Politik.
Enver und seine Gesinnungsgenossen hatten schon von dem Ersten Weltkrieg begonnen Anatolien ethnisch zu säubern. Enver hatte sich fest vorgenommen, zuerst die demographische und ethnische Struktur Anatoliens zu verändern und dann das Reich mit den »Rassenbrüdern« in Kaukasus und Asien zu vereinen. Die armenischen Aufstände waren dann der willkommene Anlass für das Genozid an der armenischen Zivilbevölkerung in 1915. Den Armeniern folgten dann die Aramäer sowie die Völker der Keldani und Nasturi. Die Panturkisten hatten die unselige Tradition »für die hohen Interessen des Staats zu sterben und zu töten« etabliert.
Die junge Republik setzte diese Tradition fort. Schon 1919 waren Zehntausende pontische Griechen aus Nord- und Mittelanatolien vertrieben worden. Und 1923 konnten die Unterhändler von Mustafa Kemal bei der Lausanner Konferenz erreichen, dass rund 1,2 Millionen anatolische Griechen nach Griechenland umgesiedelt werden. Im Gegenzug kamen 0,5 Millionen muslimische Griechen und Türken ins Land. Bis in die späten 1960er Jahre wurde das Projekt »Turkisiierung Anatoliens« offen als Staatsziel verfolgt. Der Druck auf nichtmuslimische Bevölkerungsteile, das Land zu verlassen, wurde mit den blutigen Militäroperationen gegen kurdische Aufständische im Südosten der Türkei und staatlich organisierten Pogromen wie im September 1955 noch mehr verstärkt. Zwangsumsiedlungen, »Sprich Türkisch« Kampagnen und staatliche Geburtenkontrolle »zur Ausgleichung des türkischen Bevölkerungsanteils« waren Instrumente dieser Politik.
Mit der Gründung der Republik wurden der Staat, die Partei [2] und die Regierung eine Einheit. Die Armeeführung blieb wie zu Zeiten Envers autonom. Nach 1946 begann das Mehrparteiensystem, die jedoch mit dem Militärputsch von 1960 wieder justiert wurde. Weitere Interventionen der Armeeführung sowie die Militärjunta von 1980 haben die Macht des »Heiligen Staates« und der Armeeführung, als selbsternannte »Beschützer des Heiligen Staates« gefestigt. So entstand die formale bürgerliche Demokratie türkischer Lesart.
Noch heute ist es dem Parlament und den gewählten Regierungen kaum möglich, die rechtlichen, politischen und wirtschaftlichen Privilegien sowie die verfassungsrechtlich verankerte Position der Armeeführung im Gesetzgebungsverfahren zu überwinden. Obwohl die derzeitige Erdogan – Regierung sogar über eine verfassungsändernde Mehrheit im Parlament verfügt, ist sie noch nicht mal im Stande, die Richtlinien der Hochschulkommission zu ändern; geschweige denn die Militärs zurückzudrängen. Sowohl die Generalität und sie stützende Staatsbürokratie, als auch nationalistisch - kemalistische Eliten haben kein Interesse an einer Legitimation durch demokratisch hergestellte Mehrheiten. Als Legitimation reicht ihnen die zutiefst rassistische Staatsideologie, ihre institutionelle Machtstellung und die Berufung auf den Staatsgründer Mustafa Kemal vollkommen aus.
Bisher konnte die zweigeteilte Macht im Staat noch im Lot gehalten werden. Doch die Möglichkeit, dass der nächste Staatspräsident aus den Reihen der Erdogan – Regierung kommen könnte, hat das labile Gleichgewicht erheblich gestört. Denn in diesem Falle wären die höchsten Staatsämter, nämlich der Parlamentspräsident, der Ministerpräsident und der Staatspräsident, der auch traditionell dem allmächtigen »Nationalen Sicherheitsrat« vorsitzt, in den Händen der verhassten »Laizismusgegnern« - einer Mannschaft, die scheinbar den EU – Beitrittsprozess fortführen und mit Hilfe der EU – Wettbewerbsrichtlinien die wirtschaftlichen Interessen der Armeeführung begrenzen will. Bis heute wurden die Staatspräsidenten entweder aus den Reihen aktiver oder pensionierter Generäle oder hohen Bürokraten ausgesucht – bis auf Süleyman Demirel. Jedes mal, wenn das Parlament einen Zivilisten als Staatsoberhaupt wählen wollte, hat die Armeeführung mit einem Umsturz oder anderen Interventionsformen dies zu verhindern gewusst. Denn sie akzeptiert keinen Herrn über sich. Daher ist das Amt des Staatspräsidenten eine starke rote Linie, so dass bei dem geringsten Anzeichen einer Übertretung die Generalität sofort intervenieren könnte. Die sozialistische Linke in der Türkei spricht aus diesem Grund inzwischen von der realen Gefahr einer erneuten Militärdiktatur.
Zweitens, die chauvinistisch – nationalistische Stimmung in weiten Teilen der türkischen Bevölkerung. Das »Exekutieren staatsfeindlicher Elemente« durch paramilitärische oder geheime Organisationen, die nachweislich enge Verbindungen zur Armeeführung unterhalten, hat in der Türkei eine lange Tradition. Auch die Ministerpräsidentin Tansu Ciller hatte 1993, nach der Exekution mehrerer kurdischer und türkischer Oppositionellen, verlautbaren lassen, dass »diejenigen, die für die Interessen des Staates erschossen wurden oder andere erschossen haben, unsere Jungs« seien. Es waren immer ehemalige Angehörige von Spezialteams der Sicherheitskräfte oder aus den Reihen der Neofaschisten rekrutierte Kriminelle, die so zahlreiche Intellektuelle oder AktivistInnen der linken Opposition »verstummen« ließen.
Alle Exekutionen verliefen nach dem selben Plan. Aber die Ermordung von Hrant Dink am 19. Januar 2007 brachte eine neue Qualität in das Muster. Den Mord begann ein jugendlicher Zivilist. Die massenhafte Reaktion der demokratischen Kräfte in der Türkei und die gestiegene Interesse der internationalen Öffentlichkeit nötigte die Erdogan – Regierung, die Aufklärung des Mordes zu verfolgen. Doch damit begann eine Kettenreaktion, in der Verflechtungen und Verbindungen staatlicher Stellen an dem Mord offenbart wurden [3].
Darin sahen Erdogan und seine Regierung unterstützenden Kräfte zuerst eine Chance, mit dem als »tiefen Staat« bezeichneten Konglomerat abzurechnen. Wie seine Vorgänger Demirel und Ecevit versuchte Erdogan sich gegen den »tiefen Staat« zu positionieren. In einer Fernsehsendung erklärte er: »Natürlich gibt es den tiefen Staat. Seit den Osmanen wird diese Tradition weitergeführt. Aber ihn zu minimieren, wenn möglich zu zerschlagen, eben das müssen wir bewerkstelligen.« [4]
Erdogan hatte aber die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Die staatshörigen Medien skandalisierten seine Worte und kommentierten die »Gefährdung des Staates« herbei. Nach der Beerdigung von Dink, an der Hunderttausende teilnahmen und – für die Türkei einmalig – mit den Rufen »Wir alle sind Armenier« gegen den Mord protestierten, war die chauvinistisch – nationalistische Stimmung im Land aufgeheizt. Nahezu in allen größeren Städten – mit deutlicher Ausnahme der kurdischen Regionen – formierten sich Demonstrationen der Nationalisten. Bei den Ligaspielen skandierten Fußballfans rassistische Rufe. Polizeichefs, pensionierte Geheimdienstler oder aber auch Offiziere der Armee kommentierten die Ausschreitungen, die in einigen Städten zu hysterischen Lynchversuchen ausarteten, als »verständliche und vom Nationalgefühl geleitete Reaktionen der Bevölkerung«.
Seit einigen Jahren ist es vermehrt zu beobachten, wie ominöse Vereine des »Türkentums« in verschiedenen Städten gegründet werden, zu denen sogar die neofaschistische MHP Distanz zu halten versucht. Diese Vereine, von denen sich einige sogar nicht scheuen, sich als »Nationalsozialistischer Verein des Türkentums« [5] zu bezeichnen, werden i. d. R. unter dem Vorsitz von pensionierten Offizieren gegründet und führen Hetzkampagnen wie »Kauft nicht bei dem Kurden« und sammeln in den Fußgängerzonen Unterschriften für die Forderung »Den Zuwachs kurdischer Bevölkerung stoppen!«. Inzwischen sind in Fernsehsender, die der Erdogan – Regierung nahe stehen, zu sehen, wie Vereinsmitglieder einen Eid auf die türkische Fahne sprechen und schwören, dass sie als »von türkischen Eltern reinen Blutes abstammende Türken, für die Interessen des Staates zu töten und zu sterben bereit sind«. Kurzum, es sind beängstigende Parallelen zu den Anfängen des Dritten Reiches erkennbar.
Das kommt aber nicht von ungefähr. Die von Erdogan geführte AKP – Regierung hat an der aufgeheizten chauvinistisch – nationalistischen Stimmung erheblich Mitschuld. Schon im letzten Jahr begann Erdogan mit der neofaschistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) und der CHP um nationalistische WählerInnen zu wetteifern. Doch jetzt wird Erdogan die Geister, die er rief, nicht mehr los. Dadurch ist auch seine EU – Politik in Verruf geraten. Rund 60 Prozent der türkischen Bevölkerung stellt sich inzwischen gegen einen EU – Beitritt der Türkei.
Dieses Jahr wird nicht nur der neue Staatspräsident gewählt, sondern auch das Parlament. Den Umfragen nach scheint eine MHP/CHP – Koalition an Zustimmung zu gewinnen. Erdogan hat sich in ein Dilemma herein manövriert, in der jeder Schritt in einer desaströsen Niederlage enden kann. Gleichzeitig ist er mit dem erhöhten Druck der Militärs konfrontiert. So bleibt ihm nichts anderes übrig, als im Nationalismusstrom mitzuschwimmen, um die drohende Niederlage abzuwenden.
Drittens, die Existenzkrise des kemalistischen Regimes. Bis heute stand das Regime unter der Schirmherrschaft Washingtons. Auch die Regierungen waren sich stets der Unterstützung der US – Administration sicher. Aber heute bereiten berechtigte Sorgen den Entscheidungsträgern in der Türkei große Kopfschmerzen. Das große Nahost – Projekt der USA steht im fundamentalen Widerspruch zu den Staatsinteressen des kemalistischen Regimes. Dieser Widerspruch begründet die Existenzkrise, welcher wiederum durch den Globalisierungsdruck in Gestalt des EU – Beitrittsprozesses und den, für das Regime nicht mehr kontrollierbaren Kurden-Konflikt verschärft wird.
Es ist offensichtlich, dass die USA den Druck auf Iran erhöhen wollen und Pläne für einen »Regimewechsel« vorbereiten. Die türkische Armeeführung möchte sich an diesen Plänen aktiv beteiligen. Gleichzeitig steht sie aber mit der Teheraner-Führung in Kontakt, um gegen die PKK-Stellungen in Iran gemeinsame militärische Aktionen durchzuführen. Die iranische Armee unterstützt die Türken bei ihrem Kampf gegen die PKK-Guerilla. Unlängst hat der Chef des iranischen Sicherheitsrates, Ali Laricani Türkei angeboten, eine koordinierte gemeinsame Operation gegen die kurdischen Kämpfer zu starten.
Das Dilemma der türkischen Armeeführung wird jedoch aufgrund der Unterstützung der kurdischen Autonomiegebiete in Nordirak durch die USA größer. Die mögliche Gründung eines kurdischen Staates, dessen Hauptstadt Kerkuk sein könnte, wird in Ankara als eine große Gefahr angesehen. Deshalb haben sowohl der Außenminister Gül, als auch der Armeechef Büyükanit bei ihren Gesprächen in Washington Anfang Februar 2007 auf dieses Problem hingewiesen.
So wie es der türkischen Berichterstattung zu entnehmen war, haben Gül und Büyükanit die Probleme Nordirak, PKK und die Beschlussvorlage zum Armenier-Völkermord im US-Senat und ihre Erwartungen dazu angesprochen. Etwaige Lösungen, wie die Zurücknahme der Völkermord Beschlussvorlage oder politische Unterstützung für Militäroperationen gegen die PKK, würden dann – so scheint die Stimmung in Ankara zumindest jetzt dafür zu sein – im Gegenzug mit der Teilnahme der türkischen Armee an einer möglichen Offensive gegen den Iran belohnt werden. Denn auch die Türkei hätte, trotz der kurzfristigen Gemeinsamkeiten in der kurdischen Frage, erhebliche Probleme mit einer islamistischen Atommacht als Nachbarn.
Was Nordirak betrifft, hat die Bush-Regierung andere Prioritäten als die Türkei. Sie unterstützt die kurdische Autonomiebehörde, weil jede andere Haltung zu einer weiteren Destabilisierung im Irak und somit zur Stärkung des iranischen Einflusses führen könnte. Deshalb werden die türkischen Gesprächspartner zu einer »Dreier-Kooperation« zwischen der USA, Türkei und kurdischer Autonomiebehörde gedrängt. Mit von US-Außenministerium initiierten Aktionen gegen PKK-nahe Organisationen, wie zuletzt in Frankreich und Belgien [6], sollte die Stimmung verbessert werden. Aber dem Armeechef Büyükanit sind diese »Goodwill-Aktionen« nicht genug. Er will die vollständige Zerschlagung der PKK-Strukturen in Europa. Bei seinem Besuch in Washington signalisierte er, dass er den Europäern nicht vertraue und von der US-Führung konsequenteres Vorgehen erwarte.
Erdogan würde hingegen dem US-Vorschlag folgen. Nach dem er dem kurdischen Führer Barzani unterschwellig mitteilte, dass seine Regierung unter bestimmten Voraussetzungen das Gespräch suchen würde, meldete sich prompt Büyükanit aus Washington: »Es kann jeder mit jedem reden. Aber als Soldat rede ich mit niemanden in Nordirak. Die Regierung sollte ein Beschluss fassen und uns eine Direktive zum Handeln geben.« [7] Damit forderte er die Regierung offen auf, entgegen den US-Plänen den Einmarsch in Nordirak zu beschließen. Daraufhin ruderte Außenminister Gül im Namen der Regierung zurück und mahnte am gleichen Tag an, dass bevor Soldaten mit ihren Waffen sprechen, zuerst die Politik notwendige diplomatische Wege ausschöpfen muss.
Fazit: Es ist alles offen
Dieser Dialog zwischen der Armeeführung und der Regierung zeigt den Ernst der Lage. Es sind zu viele Konfliktherde vorhanden, die im gesamten Zusammenhang gesehen, die Krise der Türkei vertiefen. 12-Meilen-Konflikt in der Ägäis, die Zypernfrage, die Beziehungen zu Armenien, der Iran-Konflikt, Nordirak, der EU-Beitrittsprozess und die gefährdete Souveränität, Demokratie-, Menschenrechts- und Minderheitenfragen, der Kurden-Konflikt, Laizismusdiskussionen, das Amt des Staatspräsidenten u. v. a. m. – all diese Probleme sind mit einander so verflochten, dass die Krise der Türkei zu einem hochexplosiven Pulverfass wird.
Die Eliten und der Staat haben Angst. Sie wollen an allen Plänen in der Region teilhaben. Sie wollen sich dem Globalisierungsprozess anpassen, haben aber Sorge vor der Bedrohung der nationalstaatlichen Strukturen. Zum ersten mal in der Geschichte der Republik ist ihre Zukunft derart unbestimmt. Die Dynamik der kurdischen Opposition im Lande ist nicht mehr unter Kontrolle zu bringen. Die erhoffte Unterstützung der USA in dieser Frage lässt auf sich warten. Das alles wirkt wie ein Erdbeben und erschüttert das Regime in all ihren Strukturen.
Diese Erschütterungen und eine Armeeführung, dem ein extremer Hardliner vorsteht und offen eine Neigung zur irrationalen Handlung aufweist, birgt nicht vorausbestimmbare Gefahren für das Land und die Region. Wenn die militärischen Entscheidungsträger keine Perspektive mehr sehen, könnte sich die Türkei durch ihre Handlungen in einen Chaos stürzen, der sicherlich auch den Plänen der USA schaden würde. Ob aber die USA dieses Risiko in Kauf nehmen würden und mit welchen Zugeständnissen dies abwenden würden, kann nicht vorausgesagt werden. Denn die Handlungsoptionen der geschwächten Bush-Regierung sind begrenzt. Und die EU hat ihren Einfluss in der Türkei gänzlich verloren.
In einer solchen Situation konzentrieren sich alle Blicke auf die kommenden Monate. Im April soll der neue Staatspräsident gewählt werden. Die kurdische Guerilla erwartet eine massive Offensive der türkischen Armee – rund 250.000 türkische Soldaten sind an der türkisch-irakischen Grenze stationiert. So warten alle auf den Frühling. Der Frühling wird sicher kommen, aber was er mitbringt ist nicht offen. Offen ist m. E. nur eins: Die gesellschaftliche und politische Linke in Europa sollte sich warm anziehen. Denn die Völker Anatoliens werden all unsere Hilfe benötigen.
[1] Yasar Büyükanit, Chef der türkischen Streitkräfte, während eines Empfangs der türkischen Botschaft in den USA. Quelle: Nachrichtenagentur Anadolu (AA), 14. Februar 2007.
[2] Die Republikanische Volkspartei (Cumhuriyet Halk Partisi) wurde von Mustafa Kemal gegründet und besteht, obwohl zwischenzeitlich nach dem Militärputsch vom 12. September 1980 verboten, als älteste Partei der Republik Türkei bis heute.
[3] Ein paar Tage nach der Verhaftung des Dink – Mörders Ogün Samast wurden Videoaufnahmen veröffentlicht, auf denen zu sehen ist, wie Polizeibeamte und Gendarmen mit dem Mörder, der eine türkische Fahne in der Hand hält, posierten. Hinter ihnen war zu lesen: »Das Vaterland ist heilig und darf nicht seinem Schicksal überlassen werden«.
[4] Kanal 7, Politsendung »Iskele – Sancak« vom 28. Januar 2007 sowie diverse türkische Tageszeitungen vom 29. Januar 2007.
[5] »Türkçü Toplumcu Budun Dernegi« in Izmir. Am 12. Mai 2006 meldeten türkische Agenturen, dass dieser Verein im Internet eine Liste von Intellektuellen, KünstlerInnen und linken Organisationen als Feinde des türkischen Staates veröffentlichte und einen Aufruf an die türkische Nation machte: »Türkische Männer und Frauen! Gebärt für das Türkentum noch ein Kind. Denn eure Zahl nimmt ab, während die Zahl der Verräter, Kriminellen und Drogenverkäufern zunimmt. Wir sind die einzigen, die dem türkischen Menschen, der zwischen der arabischen und westlichen Kultur eingeengt wird, zeigen können, sich selbst zu lieben. Wir sind die Nationalsozialisten des Türkentums, die den Kurden- und Zigeunerbanden und den Fundamentalisten die einzige Antwort, die sie verdienen geben werden.«
[6] Sowohl Matt Bryza als auch Dan Fried vom US-Außenministerium erklärten türkischen Medien, dass sie die Aktionen in Europa initiiert hätten. Bryza zu einem Journalisten der Sabah-Gruppe: »Die Operationen in Europa wurden unter der Koordination des US-Außenministeriums durchgeführt. Wir haben unsere europäischen Kollegen gebeten, bestimmte Personen aufzugreifen und das Geldverkehr der PKK unter Kontrolle zu bringen.«
[7] Tageszeitung Hürriyet vom 18. Februar 2007.