Freitag, 9. Juli 2010

»Die türkische Realität«

Januar 2007/ Seit rund zwei Jahren unterstützt die Rosa-Luxemburg-Stiftung die türkische Nahrungsmittelgewerkschaft Gida-Is bei ihrem Projekt in der Türkei. Die Projekte und insbesondere eine breit angelegte Feldstudie zu den Einstellungen der abhängig Beschäftigten zum EU-Beitrittsprozess haben höchst interessante Ergebnisse offenbart. Die Tendenz einer Ablehnung des EU-Beitritts der Türkei scheint sich zu verstärken. Besonders gewerkschaftlich organisierte Beschäftigte verfolgen die Umsetzung neoliberaler EU-Diktate mit großer Besorgnis.

Jetzt läuft das Projekt aus. In diesem Zusammenhang hatte die Gewerkschaft Gida-Is den Abschluss des Projektes mit einer internationalen Konferenz krönen wollen. ProjektmitarbeiterInnen und Gewerkschaftsführung legten sich ins Zeug. Vor Monaten begannen die Vorbereitungen. Internationale Gäste wurden eingeladen, Räumlichkeiten der Technischen Universität Istanbul (ITÜ) wurden gemietet, die Miete im Voraus bezahlt und eine Übersetzerfirma engagiert. Für die internationale Konferenz »Dialog verbindet, Solidarität stärkt« und für das in diesem Rahmen durchzuführende Podiumsdiskussion »Die Völker der Erde suchen ihren Frieden« waren alles Notwendige erledigt. Nun könnten die Gäste kommen. Doch, man hatte eine vergessen: die türkische Realität.

Der Dekan der Fakultät für Maschineningenieurwesen der ITÜ, Prof. Dr. Taner Derbentli meldete sich zwei Tage vor der Konferenz bei dem Generalsekretär von Gida-Is, Seyit Aslan. Trotz des Mietvertrages und der gezahlten Miete forderte der Professor ein offizielles Schreiben von Gida-Is, mit der sich die Gewerkschaft verpflichten sollte, während der Konferenz mit keinem Wort über die »kurdische Frage in der Türkei« zu diskutieren. »Ansonsten werden wir Ihnen den Zutritt verweigern« war die Drohung.

Für die Gewerkschafter kam so etwas selbstverständlich nicht in Frage. Sie intervenierten und schickten die Liste der teilnehmenden Personen, u. a. mit bekannten Namen wie MdB Norman Paech, Prof. Dr. Mustafa Türkes, Prof. Dr. Mehmet Türkay sowie vielen anderen WissenschaftlerInnen, SchriftstellerInnen und JournalistInnen an den Dekan. Als ob die Leitung der Universität nichts besseres zu Tun hätte, wurde mitgeteilt, dass man Informationen über die TeilnehmerInnen eingeholt habe und »man den Verdacht hat, dass KurdInnen die Veranstaltung instrumentalisieren würden«. Im übrigen habe man herausgefunden, dass Dr. Kemal Bozay, ein Vorstandsmitglied der Rosa-Luxemburg-Stiftung NRW, einem kurdischen Institut vorstehe. »Der Name Bozay« eigentlich ein urtürkischer Name, »beweist, dass der Mann ein Kurde ist«. So kam auch das erwartete Schreiben. Am Donnerstag, den 18. Januar 2007, zwei Tage vor der Konferenz, teilte die ITÜ-Leitung in ihrem Faxmessage von 14.16 Uhr mit, dass »der Universitätsvorstand auf ihrer Tagung Nr. 718 beschlossen hat, die Räumlichkeiten der Universität aufgrund der Sorge, dass die Veranstaltung den akademischen Interessen der Universität widersprechen könnte, der Gida-Is nicht zur Verfügung zu stellen«.

Noch letztes Wochenende fand in Ankara eine Friedenskonferenz statt. An dieser Veranstaltung hatten zahlreiche Intellektuelle, u. a. der große türkisch-kurdische Schriftsteller Yasar Kemal, verschiedene Persönlichkeiten und PolitikerInnen, teilgenommen. Die Konferenz hatte Aufsehen erregt und die öffentliche Diskussion über die kurdische Frage und den innertürkischen Frieden wieder auf die Tagesordnung gesetzt. Regierung, Armeeführung und die Mainstream-Medien jedoch griffen die Organisatoren heftig an und warfen ihnen vor, dass sie »eine terroristische Organisation unterstützen« würden.

Auf der anderen Seite hatte das türkische Parlament das Thema »Intervention in Kerkuk« auf seiner Agenda. Seit Tagen wiesen die türkischen Medien auf die Möglichkeit und »Notwendigkeit« eines türkischen Eingriffs in Nord-Irak, um die »Turkmenen vor den Angriffen der kurdischen Seite zu schützen«, hin. Gleichzeitig steht das Land in einer Wahlstimmung. In diesem Jahr werden der neue Staatspräsident und das neue Parlament gewählt. Premier Erdogan hat seine Absicht kundgetan, dass entweder er oder einer ihm nahestehende Person der neue Staatspräsident werden soll. Das wiederum stößt bei der Armeeführung und der kemalistischen Elite auf Ablehnung. Diese Debatten und eine mögliche vorgezogene Wahl schaffen eine Atmosphäre des Nationalismus und Chauvinismus. Erdogans Äußerungen zeigen, dass er und seine Partei gewillt sind, mit der inzwischen nach rechts driftenden Republikanischen Volkspartei (CHP) und der neofaschistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) in einen fatalen Wettbewerb des nationalistischen Stimmenfangs zu gehen.

Im Grunde genommen handeln die Professoren der Istanbuler TU, die in der Vergangenheit ohne akademische Sorgen die Räumlichkeiten der Uni an die NATO, Unternehmerverbände und sogar für eine Modeschau vermietet haben, genau nach Plan. Eigentlich ein Armutszeugnis für die türkische Wissenschaft, aber auch der Ausdruck der türkischen Normalität, in der sich sogar namhafte Professoren zu Ausführungsbeamten einer militaristischen Staatsführung degradieren lassen.

Trotz der kurzfristigen Absage, was einer Sabotage der Veranstaltung entspricht, konnte die Gewerkschaft innerhalb weniger Stunden neue Räumlichkeiten für die Veranstaltung organisieren. Die Konferenz »Dialog verbindet, Solidarität stärkt« wird mit Unterstützung der Rosa-Luxemburg-Stiftung in einem Istanbuler Hotel stattfinden. Vielleicht wird sogar dieser Skandal dazu führen, dass sich die Zahl der TeinehmerInnen erhöht. Dass Solidarität stärkt, wurde inzwischen auch bewiesen: für die Podiumsdiskussion hat der Vorstand der Vereinigten Metallarbeitergewerkschaft Birlesik Metal-Is, den Versammlungssaal ihrer Zentrale zur Verfügung gestellt. Auch das gehört zur türkischen Realität: trotz allem sich solidarisch zu zeigen.

Dieser Artikel wurde zwei Stunden vor der Ermordung von Hrant Dink verfasst und verschickt. Der quasi gleichlautende türkische Text wurde am 20. Januar 2007 in der Tageszeitung Yeni Özgür Politika veröffentlicht.