Juni 2007/ Diejenigen, die meine Kolumnen lesen, wissen, dass ich i. d. R. mich mit europapolitischen Themen beschäftige. In der Kurdenfrage und türkischer Innenpolitik gibt es genügend kompetentere Kolumnisten, so dass ich nur ab und zu mich diesen Themen widmen brauche. Abgesehen davon, bin ich als ein in Europa lebender Sozialist der Auffassung, dass es, außer einer solidarischen Haltung gegenüber den demokratischen Kräften, der Beschäftigten und den Unterdrückten, nicht angebracht ist, Bewegungen in der Türkei Ratschläge zu geben.
Aber es gibt manchmal Entwicklungen, die uns, wenn wir glaubwürdig bleiben wollen, zu einer eindeutigen Positionierung drängen. Insbesondere die Entwicklung in der Türkei, die den gesamten Nahen Osten beeinflussen kann, ist für diejenigen Kräfte, die sich für den Frieden, Demokratie und für das gleichberechtigte Leben der Völker einsetzen, mehr als Besorgnis erregend. Daher denke ich, dass es mit zu ihren Aufgaben gehört, Ideen zu entwickeln, Analysen für die Durchleuchtung der Hintergründe zu erarbeiten und Vorschläge zu machen.
Warum schreibe ich das? Heute habe ich einen Artikel von Demir Kücükaydin gelesen. Demir bewertet das Dekret der Armeeführung und den Prozess der vorgezogenen Neuwahlen und macht einen Vorschlag:
»(...) Heute gibt es gute Voraussetzungen, um die Armeeführung zu isolieren. Es ist Lebensnotwendig, ein breites Bündnis, in der sogar die liberalsten und ängstlichsten Kräfte vertreten sein müssen, gegen den de facto Militärputsch aufzubauen. Das Hauptziel von Heute ist die, sich außerhalb der Verfassung befindende Armeeführung und das schmieden eines Gegenbündnisses; es gilt, die Kräfte gegen diese mächtigen, aber am meisten verletzbaren Punkt zu konzentrieren.
Um das Bewegungsfeld der Armeeführung einzugrenzen, ihn zu isolieren, ein Gegenbündnis aufzubauen, sollte die PKK, in anbetracht der neuen Situation, bis zu den Wahlen und Konstituierung des Parlaments einen sofortigen einseitigen Waffenstillstand ausrufen und erklären, dass sie in der Verteidigungsposition bleiben werde.« (Demir Kücükaydin, www.koxus.org)
Ich kann mir vorstellen, dass sich einige LeserInnen jetzt ärgern. Man wird mir entgegnen, dass in einer Zeit, in der die Armee mit 50.000 Soldaten Vernichtungsoperationen durchführt und an nationalsozialistische Zeiten erinnernde Pogrome gegen KurdInnen geschürt werden, ein solcher Vorschlag absurd sei. Man wird mich daran erinnern, dass »jede einseitige Waffenstillstandserklärung mit Vernichtungsoperationen beantwortet wurden«. Das sind nicht von der Hand zu weisende Tatsachen, aber die Bewertung der Entwicklung in der Türkei in Zusammenhang mit ihren internationalen Dimensionen zeigt auf, wie wichtig dieser Vorschlag ist.
Fest steht, dass der einzige Ausweg aus der tiefen Krise in der Demokratie liegt. Denn das heutige Bild zeigt, dass sich das Land auf einem Weg befindet, welches eine nicht auszumalende Zahl von Menschen das Leben kosten könnte. Innerhalb der militaristischen Clique, die die Staatsmacht in den Händen hält, setzt sich ein Verständnis durch, das alles zu opfern bereit ist. Die Aussagen, die defizitäre Demokratie abzuschaffen, sich in ein Kriegsabenteuer zu begeben und einen strategischen Frontwechsel vorzunehmen, findet in größeren Teilen der türkischen Bevölkerung fruchtbaren Boden. Während offen über eine strategische Partnerschaft mit Russland, China und Iran, die auch Pakistan betreffen könnte, debattiert wird, werden Stimmen laut, die Neuwahlen auf unbestimmte Zeit auszusetzen. Sicherlich sind dies Schritte zum Schutz des militaristischen Vormundschaftsregime und der privilegierten Stellung der Armeeführung im Staat, Politik und Wirtschaft, belegen aber zugleich die imperialen Gelüste der militärischen Machthaber.
Aus diesem Grund ist es mehr als Notwendig, den Einfluss der militaristischen Clique zu brechen, die Legitimität der parlamentarischen Demokratie – auch wenn sie defizitär ist – zu stärken und die Kriegsgefahr soweit es geht, zurück zu drängen. Eine parlamentarische Opposition der unabhängigen KandidatInnen kann in dieser Situation die Möglichkeiten für das Brechen der Kriegskonzeption und für die Bildung einer breiten gesellschaftlicher Oppositionsbewegung stärken.
Der Vorschlag von Demir Kücükaydin weist auf einen Weg, der eine solche Perspektive eröffnen könnte. Ich möchte unterstreichen, dass ich als ein Sozialist, der den bewaffneten Kampf außer der legitimen Selbstverteidigung gänzlich ablehnt, diesen Vorschlag voll unterstütze. Ich bin mir bewusst, dass in der heutigen Situation es sehr schwer ist, diesen Vorschlag zu akzeptieren. Aber m. A. n. ist die kurdische Bewegung gehalten, sich dieser Herausforderung zu stellen.
Am 9. Juni 2007 veröffentlicht in der Tageszeitung »Yeni Özgür Politika«