Freitag, 9. Juli 2010

Die Türkei: Der neue Bodyguard Europas?


Februar 2005 /
Am 17. Dezember 2004 hat der EU-Gipfel in Rom den Beginn der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei beschlossen. Nun beginnt ein Prozess, der 12 bis 15 Jahre dauern und ergebnisoffen geführt werden soll. Die europäischen Staats- und Regierungschefs begründeten diesen Schritt mit den »ureigenen Interessen Europas«. Dieser Beschluss habe wirtschaftliche und soziale, aber auch geopolitische Gründe. Eine erfolgreiche Heranführung der Türkei an die EU wäre nicht nur für die wirtschaftlichen Aussichten, sondern insbesondere für sicherheits- und verteidigungspolitischen Interessen Europas ein unermesslicher Gewinn. Jetzt gelte es, sowohl die Türkei als auch die EU für diesen Beitritt herzurichten.

In der Türkei wurde dieser Beschluss wie ein bedeutender Sieg gefeiert. Weil ein großer Teil der türkischen Gesellschaft mit dem Beitritt die Hoffnung hegt, am Tafel der Europäer etwas von deren Wohlstand, ihren bürgerlichen Demokratie und den sozialen Standards abzubekommen, wird von den türkischen Medien ein Bild der EU gepflegt, als ob Zustände wie in den Siebziger Jahren herrschen würden.

So war es keine Überraschung, als der zum Neoliberalen konvertierte islamistische Premier Recep Tayyip Erdogan am 18. Dezember 2004 in Ankara wie ein siegreicher Feldherr empfangen wurde. Im Einklang mit den Traditionen der staatstragenden Kräfte hatte er vor den europäischen Staats- und Regierungschefs wie ein Löwe gekämpft und sich durchgesetzt. Was sind schon dagegen 12 oder 15 Jahre, was der Heranführungsprozess? Wenn der Wille da ist, dann klappt das auch mit der europäischen Integration. Dass mit den Beitrittsverhandlungen über Jahre hinaus weitere wirtschafts-, finanz- und sozialpolitische Umwälzungen diktiert werden, scheint die politischen und wirtschaftlichen Eliten nicht besonders zu beeindrucken. Wie auch dieser Prozess zu Ende gehen mag, die wirtschaftlichen, politischen und militärischen Eliten werden zu den Gewinnern zählen.

Ist der »kranke Mann am Bosporus« genesen?

»Die Türkei ist nicht mehr der kranke Mann am Bosporus, sondern eine wirtschaftlich und militärisch starke Regionalmacht, die den islamischen Ländern in Sachen Demokratie und Wirtschaftswachstum ein gutes Beispiel bietet.«(Recep T. Erdogan im staatlichen Fernsehen) In der Tat; die Türkei ist eine ausgreifende Regionalmacht mit Führungsansprüchen geworden. Ein Land, die sehr selbstbewusst ihre geostrategischen Vorteile zu nutzen weiß. Ein Land, dessen Bevölkerung ausgesprochen Jung ist und dessen Wachstumsdynamik deutlich über dem EU-Durchschnitt liegt. Alles Vorteile, die die Türkei für eine vom Kapital dominierte EU höchst interessant machen. Doch, ist der »kranke Mann am Bosporus« wirklich genesen? Hat das auch von europäischen Kommentatoren viel gepriesene Wirtschaftswachstum (in 2002 7,6 Prozent und 2003 4,5 Prozent) der Bevölkerungsmehrheit etwas genutzt? Wagen wir einen kurzen Rückblick.

Die wirtschaftliche Entwicklung der Türkei ist im engen Zusammenhang mit der seit 1980 wütenden neoliberalen Politik und den Diktaten der IWF, der Weltbank und der WTO zu betrachten. Die letzten 25 Jahre wurden wesentlich von drei aufeinander folgenden Phasen bestimmt. Die erste Phase war die Liberalisierung des Außenhandels (1980 – 1988), welches mit einem immensen Lohndumping einherging. Dem folgte die Phase der Liberalisierung der internationalen Kapitalbewegungen in den Jahren 1989 bis 1993. Finanzkrisen und Destabilisierung in den Jahren 1994 bis 1999 waren dessen Ergebnis. Und 1999 begann Zeitgleich mit der Regierungskrise der Neuordnungs- und Umstrukturierungsprozess.

Die Vereinbarung mit dem IWF in 1999 war der Auftakt zu diesem Prozess. Die Vereinbarung war für sechs Monate geschlossen worden und sah weitreichende Strukturreformen vor. Danach sollte ein »Beistandsabkommen« unterschrieben werden. Die Voraussetzungen dafür waren: 1.) die Gründung einer Bankenaufsicht und Beginn einer Finanzkonsolidierung, mit der die angehäuften Schulden der Banken zu tilgen waren, 2.) die Novellierung der Sozialgesetze, 3.) eine Verfassungsänderung für die Zulassung internationaler Schiedsverfahren und 4.) Abbau von Agrarsubventionen. Im November 1999 wurden diese Vorgaben erfüllt.

Das »Beistandsabkommen« mit der IWF wurde dann 2000 unterschrieben. Dieser für 3 Jahre verfasste Abkommen fußte auf zwei Säulen: ein mittelfristiges Stabilitätsprogramm und weitere Strukturreformen. Doch schon im ersten Jahr vertiefte sich die Krise, so dass die Vertragsfrist auf 5 Jahre verlängert werden musste. Die einzige Veränderung an diesem sog. »Stabilitätsprogramm« wurde 2001 mit der Einführung der »flexiblen Wechselkursen« vorgenommen. Seither wird an dieser Finanzpolitik, in dessen Zentrum die strikte Ausgabendisziplin steht, eisern fortgeführt.

Welche Auswirkungen diese Politik für die Bevölkerung hat, verdeutlichen die neuesten Zahlen des Statistischen Instituts der Republik Türkei (DIE). Danach lag die Armutsgrenze in der Türkei Ende 2004 bei 1.562.000.000,-- Türkische Lira. Wenn man die Wechselkurse vom 10.Januar 2005 als Basis nimmt, bedeutet das 850,-- EUR im Monat. Laut DIE liegen die monatlichen Einkommen von rund 3 Millionen Haushalten (etwa 12 Millionen Menschen) über 850,-- EUR. Über einen Einkommen unter der Armutsgrenze verfügen dagegen 15 Millionen Haushalte, d.h. nach DIE – Rechnung rund 58 Millionen Menschen. Das durchschnittliche monatliche Einkommen dieser Haushalte liegt bei 350.000.000,-- TL, also bei 192,30 EUR. Rund 2 Millionen Menschen müssen mit weniger als 1,-- EUR am Tag auskommen. Rechnerisch hat sich das Einkommen pro Kopf von 1.570 US-Dollar bei 71 Milliarden US-Dollar BSP (1980) auf 4.128 US-Dollar bei 293 Milliarden US-Dollar BSP (2004) mehr als verdoppelt, aber für 82 Prozent der Bevölkerung hat es an der Tatsache, an der Armutsgrenze leben zu müssen, nichts geändert.

Die Fortführung dieser Politik der letzten 25 Jahre hat dazu geführt, dass die Türkei mehr und mehr in die Abhängigkeit des internationalen Kapitals und dessen Institutionen geraten ist. Die makroökonomischen Daten belegen, dass die Türkei ein Geheimtipp für Kapitalvermehrung geworden ist. Mit der Einführung der flexiblen Wechselkursen, der Umsetzung von IWF-Vorgaben und einer repressiven Innenpolitik wurde für internationale Finanzjongleure Tür und Tor geöffnet. So konnten internationale Anleger z.B. im März 2001 nach Abzug der Wechselkursverluste für ihr Geld in 30 Tagen rund 4,7 Prozent (56,4 Prozent p.a.) Rendite erwirtschaften. 2002 fiel die Rendite etwas geringer aus: rund 50,5 Prozent p.a..

Tabelle 1: Auszug aus den makroökonomischen Daten
2000 2001 2002 2003 2004
BSP (in Milliarden US-Dollar) 201 144 182 230 293
Einkommen pro Kopf (in US-Dollar) 2.987 2.105 2.619 3.390 4.128
Inflationsrate ( in %/p.a.) -- -- 51,2 27,4 25,3
Zinsen für Staatsanleihen (p.a.) 38,2 99,9 63,5 44,1 24,7
Export (in Milliarden US-Dollar) 27,8 31,3 36,0 47,2 56,2
Import (in Milliarden US-Dollar) 54,5 41,4 51,6 69,4 94,8
Arbeitslosenquote (Jahresdurchschnitt) 6,6 8,5 10,3 10,5 10,5
Quelle: Statistisches Institut der Republik Türkei, Jahresdaten 2004

Auch das viel gepriesene »Wirtschaftswachstum« entpuppt sich – hinsichtlich des gesamtgesellschaftlichen Nutzens – bei näherem Hinsehen als eine Seifenblase. Dazu der Verband der unabhängigen Sozialwissenschaftler:

»Ein Wirtschaftswachstum, welches die Erhöhung des gesellschaftlichen Wohlstands nicht zur Folge hat, kann nicht als Erfolg betrachtet werden. Ein Wachstum, das nur die vorhandenen Kapazitäten ausschöpft, ist nicht nachhaltig. So gesehen kann festgestellt werden, dass in der türkischen Wirtschaft seit 2000 bei den Investitionen ein Rückgang erfolgt. Die öffentlichen Investitionen in 2003 sind gegenüber dem Vorjahr rund 36 Prozent zurückgegangen. Gleichzeitig hat sich die Kapazitätsauslastung stetig erhöht. Was regierungsamtlich als „Wachstum“ angepriesen wird, ist nichts anderes als eine Einkommenserhöhung aufgrund der erhöhten Kapazitätsauslastungen. Das ist ein Ergebnis einer künstlich erzeugten Nachfrage, die sich in den spekulativen Kapitaleingängen begründet und nicht die Quelle eines stabilen Wachstums sein kann.Unabhängige türkische Wissenschaftler prangern seit Jahren diesen Umstand an. Wir kritisieren die sogenannte „makroökonomische Stabilität“ die zu einer massiven Verteilungsungerechtigkeit und Kaufkraftverlust breiter Bevölkerungsmassen geführt hat. Doch diese Kritik, die sich ausbreitende Verarmung, die Massenarbeitslosigkeit und der Rückgang der Investitionen hat für die Kreise, die die makroökonomischen Entwicklungen stets in den kurzen Zeitabständen der Finanzmärkte bewerten, keine Bedeutung.«(http://www.bagimsizsosyalbilimciler.org)

Tabelle 2: Entwicklung der Investitionen und der Kapazitätsauslastung 2000 – 2003 (in Milliarden TL)
2000 2001 2002 2003
Bruttokapitalbildung 8711.2 5311.2 6534.9 6394.7
davon öff. Investitionen 3175.6 2578.7 3164.5 1837.4
davon Investitionen der Privatwirtschaft 5535.6 2768.1 3379.4 4557.4
Kapazitätsauslastung (in %) 75,9 70,9 75,4 77,9
davon die öffentliche Hand 79,8 81,8 81,7 83,8
davon die Privatwirtschaft 74,4 66,7 72,8 75,1
Quelle: Statistisches Institut der Republik Türkei, aus den Jahresdaten 2003

Die Folgen der von IWF diktierten Politik machen sich auch bei den Steuereinnahmen, den Staatsausgaben und der Schuldenentwicklung bemerkbar. Während seit 1980 der Anteil der mittelbaren Steuern an dem Steuereinkommen sank, nahm der Anteil der unmittelbaren Steuern wie die Mehrwertsteuer stetig zu. Demgegenüber ist zu verfolgen, dass die sog. »Ausgabendisziplin« die stetige Abnahme der Staatsausgaben für Bildung, Soziales, Gesundheit, Agrarsubventionen u.v.m. zur Folge hat. Dies gilt jedoch nicht für Zins- und Tilgungszahlungen der In- und Auslandsschulden. Nach DIE-Angaben betrugen die Zinszahlungen 2003 rund 40 Prozent der Staatseinnahmen. Die Auslandsverschuldung wuchs von 118,8 Milliarden US-Dollar (2000) binnen 4-Jahresfrist auf 153,2 Milliarden US-Dollar (2004).

Tabelle 3: Entwicklung der Auslandsschulden
2000 2001 2002 2003 2004
Auslandsschulden Gesamt (Milliarden US-Dollar) 118,8 113,9 130,2 145,8 153,2
davon kurzfristige Verbindlichkeiten (Milliarden US-Dollar) 28,3 16,4 16,4 23,0 29,3
langfristige Verbindlichkeiten (Milliarden US-Dollar) 90,5 97,5 113,8 122,8 123,9
Quelle: Statistisches Institut der Republik Türkei und Staatssekretariat des Finanzministeriums, Jahresdaten 2004

Diese Zahlen belegen, dass die Türkei seit 1980 in einem Teufelskreis der sich erhöhenden Schulden stecken geblieben ist und gerade mit der von den Instituten des internationalen Kapitals diktierten Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitiken nicht mehr aus dieser Falle herauskommen kann.

IWF und EU Hand in Hand

Die Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP) des Ministerpräsidenten Erdogan hatte vor den Parlamentswahlen vollmundig IWF-kritische Wahlversprechen gegeben, die sie jedoch in den ersten Tagen ihrer Regierung ad acta legte. In seiner ersten Regierungserklärung stellte Erdogan dem türkischen Parlament, in dem seine Partei AKP über eine absolute Mehrheit verfügt, ein durch und durch neoliberales Regierungsprogramm vor. Schon im April 2003 wurde unter der Überschrift »Grundgesetz der öffentlichen Verwaltungen« ein umfangreiches Reformpaket vorgestellt. Dieses Paket beinhaltet von Personalpolitik der öffentlichen Verwaltungen über Finanzverwaltung und staatliche Wirtschaftsunternehmen bis zu den Gemeindeverwaltungen und Sozialversicherungen die Privatisierung sämtlicher öffentlicher Bereiche.

Damit zeigt die AKP, dass sie gewillt ist, die Vorgaben der IWF und der Weltbank zu erfüllen und die diktierte Politik umzusetzen. Erdogan begründet seine Politik mit der »Notwendigkeit, die Wünsche des internationalen Kapitals zu erfüllen und die politischen Anpassungsschwierigkeiten der türkischen Staats- und Verwaltungstraditionen zu überwinden« (Erdogan im türkischen Staatsfernsehen am 15. Dezember 2004). Um diese Wünsche zu erfüllen will er die geforderten »Reformen« zügig umsetzen. Das sind in erster Linie Reform der öffentlichen Verwaltung, Finanzreform, Reform der sozialen Sicherungssysteme, Bildungs- und Arbeitsmarktreformen. Kurzum, es wird weiter dereguliert, liberalisiert und privatisiert. Und die Zeche soll dann die Bevölkerung zahlen.

Diese Politik wird auch noch als »unabhängige Wirtschaftspolitik« verkauft. Dreister geht es nicht mehr. Der Staatsminister für Wirtschaft, Ali Babacan sagt dazu: »Mit guten Gewissen kann ich behaupten, dass die Türkei zum ersten Mal nach langen Jahren unter unserer Regierung eine unabhängige Wirtschaftspolitik umsetzt.« Unterstützt wird er dabei von höchster Stelle der internationalen Finanzinstitute. Nach dem Abkommen über einen neuen Beistandskredit von 10 Milliarden US-Dollar von IWF, sagte der für die Türkei zuständige Weltbankdirektor Andrew Vorkink am 10. Januar 2005 der türkischen Tageszeitung Hürriyet, dass die Türkei mit der Umsetzung aller wirtschaftlichen und strukturellen Vorgaben die richtige Richtung angeschlagen habe. Vorkink betonte dabei auch, dass Haushaltsdisziplin, makroökonomische Stabilität und Umsetzung der geforderten Strukturreformen nicht nur die Vorgaben des IWF, sondern auch der EU sind und die Türkei damit langfristig nicht mehr auf die IWF angewiesen sein werde.

Dass die Vorgaben der EU und der IWF identisch sind, hat der gute Mann recht. In der von der Türkei der EU vorgelegten »Wirtschaftsprogramm für die Verhandlungszeit (KEP)« steht folgendes: »Die Grundperspektive für die Festlegung der Wirtschaftspolitik in dem Verhandlungszeitraum ist die Erweiterung der wirtschaftlichen Struktur im Rahmen der Kriterien von Kopenhagen und letztendlich die Annäherung an die Kriterien von Maastricht. (...) Die Stärkung der freien Marktwirtschaft und die Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit der türkischen Wirtschaft werden vorrangige Ziele bleiben. In diesem Zusammenhang haben die Schritte zur Verringerung des staatlichen Gewichts in der Wirtschaft durch Privatisierungen, die Überlassung der Marktordnungsmechanismen an unabhängige Institutionen und die Beseitigung der gesetzlichen Behinderungen für die freie Marktwirtschaft weiterhin eine hohe Priorität« (KEP, Oberste Planungskommission der Republik Türkei).

Mit dieser Verpflichtung, die den wesentlichen EU-Forderungen entsprechen, werden zugleich sämtliche Mitbestimmungsmöglichkeit der Bevölkerung an der Wirtschaftspolitik ausgehebelt. So wird die neoliberale Ausrichtung der türkischen Wirtschaftspolitik, wie sie von der IWF und der Weltbank seit einem Vierteljahrhundert durchgesetzt wird und nachweislich das Land nicht aus den Krisen herausholen konnte, mit den EU-Beitrittsverhandlungen zu einer unveränderbaren Konstante erkoren.

»Der beste Exportartikel der Türkei ist ihre Armee!«

Erdogan und seine Regierung haben in einer sehr kurzen Zeit bewiesen, dass sie ein williger Partner für die Umsetzung einer kapitalorientierten Politik sind. Das ist übrigens einer der wesentlichen Gründe für den noch geltenden Frieden zwischen der laizistischen Generalität und der islamistischen AKP. Die geteilten und verfassungsrechtlich verankerten Machtverhältnisse sehen für die AKP-Regierung die Umsetzung der neoliberalen Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitiken vor und für die Militärs, die freie Hand in Sachen Sicherheits- und Verteidigungspolitik.

Diese Tatsache aber bedeutet für die Bevölkerungsmehrheit Arbeitslosigkeit, Armut, weitere Abbau der sozialen Sicherungssysteme, massive Demokratiedefizite und die Verletzung der Menschenrechte. Die sog. Anstrengungen auf dem Terrain des Rechtsstaates, des Umgangs mit Minderheiten und Modernisierungspozess zur Beseitigung regionaler Unterschiede ändern daran nichts. Der Bericht des türkischen Menschenrechtsvereins IHD macht deutlich, dass die vorgenommenen Gesetzesänderungen reine Makulatur und kosmetische Operationen sind.

Dem IHD-Bericht zufolge stehen den »Reformen« bewaffnete Auseinandersetzungen, willkürliche Exekutionen, Folter und gerichtliche Verfolgung wegen Ausübung des Rechts auf Meinungsfreiheit gegenüber. Die Zahl der registrierten Menschenrechtsverletzungen stieg von 6.472 (2003) auf 7.208 (2004) an. Obwohl die Zahl der gemeldeten Fälle von Folter und entwürdigender Behandlung von 489 in Jahr 2003 auf 338 in 2004 zurückgegangen ist, stieg die Zahl der ungeklärten politischen Morde von 68 auf 80. Und trotz der geänderten Rechtslage werden weiterhin Radio- und Fernsehsender verboten, weil sie politische Debatten in kurdischer Sprache oder zensierte kurdische Musik gesendet hätten. (Siehe auch: junge welt vom 13.Januar 2005)

Die Ermordung eines 12jährigen kurdischen Schülers und dessen Vater kurz vor dem EU-Gipfel durch Polizeibeamte, die Behinderung der Ausübung von demokratischen Grundrechten, die Inhaftierung zahlreicher politischer Häftlinge sowie die Beschneidung gewerkschaftlicher Aktivitäten zeigen, dass die Türkei weiterhin als ein „Unrechtsstaat“ bezeichnet werden kann und von einer bürgerlichen Demokratie noch sehr weit entfernt ist.

In diesem Zusammenhang muss auch konstatiert werden, dass die EU-Beitrittsverhandlungen an diesem Umstand auch wenig verändern werden. Die Demokratisierung des Landes, Menschenrechtssituation und Minderheitenrechte spielen für die EU weiterhin eine nachrangige Rolle.

Die geostrategischen und militärischen Interessen bestimmen die Handlungen der EU, aber auch der USA. Für die USA hat der strategische Partner Türkei bei den zukünftigen Konflikten in der eurasischen Region subunternehmerische Qualitäten. Für die EU ist sie wiederum ein Land, welches die Gefahren der Region von Europa fernhalten soll und für die neugeordneten Interessen wichtig ist. Aus diesem Grund sehen sowohl die EU als auch die USA für die Türkei die militärische Rolle vor. Und die türkischen Eliten, die mit Hilfe der Kurdenproblematik ihre militärische Kraft massiv aufbauen konnten, sind Willens diese Rolle zu übernehmen. Schon im Dezember 1997 sagte der ehemalige Vizeoberbefehlshaber der türkischen Armee, der Viersternegeneral Cevik Bir folgendes: »Die Energiereserven des 21. Jahrhunderts liegen im Kaukasus. Daher sind in dem Dreieck Balkan-Kaukasus-Naher Osten verschiedene Szenarien in Vorbereitung. Welche Szenarie auch umgesetzt wird, die Türkei hat die Kraft dabei stets die Hauptrolle zu spielen.«

Das türkische Kapital hat die Signale rechtzeitig erkannt und will sich von der Statistenrolle für das internationale Kapital verabschieden. Anstattdessen sehen die wirtschaftlichen Eliten der Türkei in der Neuordnung der europäischen Interessen und in den Interessenswidersprüchen zwischen der USA und der EU eine historische Chance, ein unverzichtbarer und starker Partner des internationalen Kapitals zu werden. Daher unterstützen die türkischen Unternehmensverbände und Wirtschaftsführer die Bestrebungen der türkischen Generalität, die wissen wo die Stärke der Türkei liegt.

Der Finanzjongleur George Soros brachte es auf den Punkt: »Der beste Exportartikel der Türkei ist ihre Armee!« Die Balancierungsversuche der Türkei auf dem dünnen Seil der US-amerikanisch – europäischen Interessen bestätigen diese Feststellung. Der vorgesehene EU-Beitritt ist daher sowohl für die EU als auch für die Türkei ein Projekt der »Sicherheits- und Verteidigungspolitik«. Bisher konnte die EU die Auswirkungen der Destabilisierung des Nahen Ostens und der kaukasischen Region von Europa fern halten. Doch der von den USA vorangetriebene Formierungsprozess in diesen Regionen bringt die EU in Handlungszwang. Ein militärisches Eingreifen der EU ist aufgrund vieler Faktoren auf lange Sicht undenkbar. Die Intervention der türkischen Armee als verlängerter Arm europäischer Interessen jedoch denkbar.

Der EU-Beitritt ist nicht im Interesse der türkischen Bevölkerung

Die Interessen der europäischer und türkischer Eliten decken sich. Die Interessen der Bevölkerungsmehrheit in der Türkei aber sprechen gegen einen EU-Beitritt. Denn in einer EU, die zunehmend ein Europa des Neoliberalismus, des ungezügelten Sozialabbaus und des Militarismus wird, werden die Interessen der europäischen Bevölkerungen auf der Strecke bleiben. Eine Türkei als Mitglied einer solchen EU wird nicht in der Lage sein, eine unabhängige Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik zu gestalten. Sie wird nicht in der Lage sein, ihre strategischen Güter zu schützen und ihre Reichtümer für die mehr als notwendige Investitions- und Beschäftigungspolitik einzusetzen. Und sie wird nicht in der Lage sein, sich aus der erdrückenden Umklammerung des internationalen Kapitals sowie deren Institutionen zu befreien.

Aus diesen Gründen kann ich die Position der progressiven Kräfte der Türkei, die EU-Mitgliedschaft als ein imperialistisches Projekt abzulehnen, nachvollziehen. Die Türkei, besser gesagt die demokratischen und progressiven Kräfte der Türkei haben noch die Chance, Alternativen zu der heutigen Politik zu entwickeln un sich für die echte Demokratisierung des Landes einzusetzen. Wir Europäer, d.h. die europäischen Linken sollten sie in gleicher Augenhöhe in diesem Bemühen unterstützen. Meines Erachtens wäre die beste Unterstützung unser Einsatz gegen die EU-Verfassung und für ein anderes Europa. Für ein Europa der sozialen Gerechtigkeit, der Demokratie und des Friedens. Dafür müssen wir unsere Hausaufgaben erledigen.

Aus: Sozialismus, Heft 2/2005