August 2007/ Heute werden die Abgeordneten im Parlament beeidigt. Nach dem die Abgeordneten ihren Eid auf die, von der Militärjunta eingesetzten antidemokratischen Verfassung geleistet haben, werden sie ihre »gewöhnliche« Arbeit aufnehmen. Wird das ein »Happy End« sein? Wenn es von einem westlichen Land, mit ihren scheinbaren Gewöhnlichkeit die Rede gewesen wäre, wäre es nicht notwendig, das Wort »gewöhnlich« zu relativieren. Aber, die Türkei ist ein Land, das, fernab jeglicher bürgerlicher Demokratie, von einem militärischen Vormundschaftsregime beherrscht wird. Weil es alles, was eine gewöhnliche bürgerliche Demokratie ausmacht, fehlt, kann ich es kaum nachvollziehen, warum einige diesen Wahlen eine derartige »Symbolkraft« zusprechen.
Es stimmt; in dem neuen Parlament werden breite Teile der Wählerschaft vertreten. Dass die VertreterInnen von KurdInnen, die ihre Herkunft nicht verleugnen, auch im Parlament sind, ist keine zu vernachlässigende Tatsache. Und man kann auch durchaus davon sprechen, dass das Wahlergebnis, weil damit vorerst ein »Totaler Krieg« verhindert wurde, eine gut genutzte »letzte Chance« war. Dennoch darf nicht vergessen werden, dass diese Wahlen weder demokratisch, noch gleich und gerecht waren. Ich meine damit nicht die als Ungültig erklärten 1,5 Millionen Stimmen oder die 6,7 Millionen WählerInnen, die nicht an den Wahlen teilnehmen konnten. Die Tatsache, dass die 10-Prozent-Hürde gültig war, die StaatsbürgerInnen im Ausland um ihr Wahlrecht gebracht wurden, die Armee einen bewaffneten Wahlkampf geführt hat, die gesetzlichen Behinderungen und vieles andere mehr haben eindeutig bewiesen, dass diese Wahlen weder demokratisch, noch gleich und gerecht waren.
Außerdem steht es fest, dass diese Wahlen die Krise des Landes nicht lösen können. Denn das militärische Vormundschaftsregime ist nicht Willens, die Legitimation einer von ihnen nicht kontrollierten Partei, auch wenn sie 80 Prozent Zustimmung erlangt, zu akzeptieren. Anstatt dessen wird weiterhin mit den, durch die Verfassung, ungezählte Gesetze und der Bürokratietraditionen ihnen gewährten Privilegien, versucht, den eigenen Willen durchzusetzen.
Was die gewählten Abgeordneten der DTP und der einzige Sozialist Ufuk Uras in dieser Situation »bewerkstelligen« können, müssen daher als einige Wenige der Schritte, die unternommen werden müssen, bewertet werden.
Meines Erachtens sind die gewählten Abgeordneten der »Tausend Hoffnungen« sowie sie tragenden politischen Kräfte zuallererst gehalten, die Wahlergebnisse kritisch-selbstkritisch und transparent zu analysieren und den Fragen nach zu gehen, warum das Ergebnis von 2002 (in absoluten Zahlen) nicht gehalten werden konnte sowie wo die wahren Ursachen für die große Zustimmung der AKP bei den kurdischen WählerInnen liegen. Die Tatsache, dass einige KandidatInnen nur mit wenigen Hundert fehlenden Stimmen nicht gewählt werden konnten und die große Niederlage in Konya kann meiner Meinung nach mit dem Argument »man habe sich nicht gründlich vorbereiten können« nicht erklärt werden.
Ich bin der Auffassung, dass die DTP – Abgeordneten einen fatalen Fehler machen würden, wenn sie der AKP weiter vertrauen. Es ist zu erwarten, dass sowohl die AKP, als auch das Regime bei einem kleinsten Interessenskonflikt die DTP – Gruppe abschießen werden. Daher wird es nicht nützen, wenn sich die DTP – Abgeordneten »einfügen«. Jedes Mal wird ihre Loyalität zu ihrem Eid hinterfragt werden und jede Abweichung wird Angriffe provozieren.
In der Öffentlichkeit haben die DTP – Abgeordneten erklärt, dass im Parlament zur Lösung der Probleme beitragen wollen. Das ist zwar eine gut gemeinte Aussage, ist aber nichts anderes als Selbsttäuschung. Sie können sich so integrativ wie möglich verhalten, aber allein ihre bloße Anwesenheit wird zu Konflikten führen. Auch diesem Grund glaube ich, dass die einzig richtige Verhaltensweise im Parlament eine radikale Verhaltensweise sein muss. Nicht im Sinne des Extremismus, sondern im Sinne des Wortes Radikal: die Wurzeln der Probleme angreifend.
Die Krise des Landes kann nur dann, wenn diese Krise zu einer Krise des Regimes wird, also wenn für die Verankerung der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gedrängt, ein breites gesellschaftliches Bündnis geschmiedet, jegliche politische, wirtschaftliche und bürokratische Privilegien der Neojungtürken gefordert, demokratische und friedliche Lösungswege in der Kurdenfrage aufgezeigt und für einen wirklich demokratischen Sozialstaat gerungen wird, zu einer echten Lösung zugeführt werden. In diesem Sinne hat die DTP – Fraktion eine große Verantwortung. Als ein Sozialist, der sich mit den KurdInnen ohne wenn und aber solidarisiert, aber jeglichen Nationalismus beharrlich ablehnt, kann ich der DTP in dieser Situation nur eines Empfehlen: Verzicht auf das »Recht, sich separat zu organisieren« und Schritte für die Gründung einer Dachorganisation, für ein breites gesellschaftliches Bündnis für Demokratie, Arbeit und Frieden, zu unternehmen.
Krise und Krise (2)
Vor zwei Wochen hatte ich meine Kolumne mit den Worten »... kann ich der DTP in dieser Situation nur eines Empfehlen: Verzicht auf das Recht, sich separat zu organisieren und Schritte für die Gründung einer Dachorganisation, für ein breites gesellschaftliches Bündnis für Demokratie, Arbeit und Frieden, zu unternehmen« beendet. Bezugnehmend auf die nackten gesellschaftlichen Tatsachen, die durch das Wahlergebnis vom 22. Juli wieder zu Tage gefördert wurden, möchte ich das weiter begründen.
Die Wahlen haben zwei Tatsachen unterstrichen: Erstens; wie sehr die türkische Gesellschaft – unabhängig ihrer ethnischen, religiösen oder klassenspezifischen Unterschiede – Konservativ ist und, zweitens, wie sehr die Gesellschaften pragmatisch handelnd. Auch die türkische Gesellschaft hat, aufgrund des Fehlens einer ernsthaften Transformationsmöglichkeit und einer starken linken Alternative, welche diese Möglichkeit auszunutzen weißt, pragmatisch gehandelt und sich den Parteien gewendet, von denen sie die Verbesserung der Lebensverhältnisse, also kurzfristig bessere und demokratische Bedingungen erhoffte. Meines Erachtens liegt genau hier einer der wesentlichen Gründe, warum die AKP in 72 von 81 Wahlkreisen die stärkste Partei wurde.
So gesehen kann durchaus behauptet werden, dass das auch der Grund dafür war, warum die »KandidatInnen der tausend Hoffnungen« hinter dem Ergebnis der Wahlen von 2002 geblieben sind und nahezu 75 Prozent der »kurdischen WählerInnen« Systemparteien gewählt haben.
Diese gesellschaftliche Realität zeigt auch, dass eine, innerhalb der kurdischen Bewegung weit verbreitete Auffassung im Grunde eine Fehlannahme ist: Die kurdische Gesellschaft ist keineswegs »eine klassen- und privilegenlose, homogene Masse«. Die kurdische Gesellschaft hat auch nicht, wie der Yeni Özgür Politika – Kolumnist Ahmet Kahraman behauptet, sich Seit an Seit zusammengeschlossen. Kahraman übt in seiner Kolumne »Welche türkische Linke?« zu Recht Kritik an der türkischen Linken und behauptet, die KurdInnen seien »aus allen Klassen und Schichten zusammengeschlossen«.
Seine Aussage, dass der Marxismus »keine Aktualität mehr habe« ist mehrfach widerlegt worden. Daher kann ich ihm nur empfehlen, sich die Klassiker nochmals durchzulesen. Aber seine Behauptung, dass die KurdInnen sich aus allen »Klassen und Schichten« zusammengeschlossen haben, entbehrt jeder Grundlage. Diese Aussage ist eine unwissenschaftliche Fehlannahme, ein Wunschdenken. Wenn diese Aussage zutreffend wäre, müsste man schlussfolgern, dass die einzige legitime kurdische Vertretung die AKP sei. Immerhin verfügt sie über mehr als 100 Abgeordnete kurdischer Herkunft.
Natürlich wäre das falsch. Genau wie es die kurdische Nationalbewegung es ist, die auf der Grundlage der Forderungen nach Demokratie, Frieden und Gleichberechtigung, die Interessen der kurdischen Bevölkerung vertritt, ist es die Linke die wahre Interessenvertretung der Arbeiterbewegung. Dass die türkische Linke bei den Wahlen wenig Zuspruch gefunden hat, ändert nichts an der Tatsache, dass linke Forderungen richtig sind und der natürliche Bündnispartner der kurdischen Bewegung die Linke ist. Es sollte auch nicht vergessen werden, dass die Geschichte voller Beispiele ist, wie totgesagte oder als »Terroristen« gebrandmarkte Kräfte später die Regierungen stellten.
Hiervon ausgehend stelle ich die folgende These auf: Unter den heutigen Voraussetzungen der Türkei ist die Begründung der bürgerlichen Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit im Interesse eines breiten Teils der Gesellschaft – unabhängig ihrer ethnischen, religiösen und klassenspezifischen Unterschieden. Um dies Verwirklichen zu können, ist es notwendig, das militärische Vormundschaftsregime zu überwinden. Diese Notwendigkeit kann nur ein breites gesellschaftliches Bündnis bewerkstelligen. Ein Bündnis aus türkischen wie kurdischen Beschäftigten, Handwerkern, klein- und mittelständischen UnternehmerInnen, Bauern, Intellektuellen, sozialen Bewegungen und sogar oppositionellen religiösen Kräften, die den türkischen Laizismus stets als Paternalismus verstanden haben.
Ein breites gesellschaftliches Bündnis für Frieden, Demokratie und sozialer Gerechtigkeit. Die DTP – Fraktion und der sozialistische Abgeordnete Ufuk Uras müssen ihre parlamentarischen Möglichkeiten für die Gründung eines solchen Bündnisses nutzen. Eine Partei ist kein Selbstzweck, nur ein Mittel. Und weil der Zweck, also der Frieden, die Demokratie und Gleichberechtigung vorrangig ist, muss dieses Bündnis über ein Mittel verfügen, das parlamentarisch wie außerparlamentarisch einen wirkungsvollen sozialen und politischen Kampf führen kann. Ein solches Bündnis kann, als wählbare Alternative zu einer Regimekrise führen, das den Weg zur Demokratie eröffnen kann. Daher erwarte ich von der DTP, die aus dem Schoß der kurdischen Bewegung, einer Bewegung der Armen und Frauen geboren wurde, diese Verantwortung zu übernehmen.
Krise und Krise (3)
Die Wahlen vom 22. Juli haben, trotz der Krise und der Notwendigkeit einer »linken« Alternative zur AKP, wieder einmal die Schwäche der gesellschaftlichen und politischen Linken in der Türkei bewiesen. Gerade heute, wo die Diskussionen über ein linkes Bündnis an Fahrt zugenommen haben, müssten die linken Kräfte ernsthaft Selbstkritik ausüben und die Lage analysieren.
Betrachten wir zuerst die konkrete Lage: Der Disqualifizierungsversuch der 10-Prozent-Hürde war erfolgreich. Aber dieser Erfolg wäre ohne die DTP nicht möglich gewesen. Die Wahlkampagnen der »KandidatInnen der tausend Hoffnungen« besonders in den großen Städten belegen, dass zahlreiche Menschen, die bisher alleine von den linken Parteien nicht in Bewegung gebracht werden konnten, aktive Aufgaben übernommen haben. Diese Tatsache zeigt das Bedürfnis an eine ganzheitliche Alternative zu herrschenden Kräften.
Ich bin der Auffassung, dass die Linke, um ihre Glaubwürdigkeit wieder zu erlangen, zuerst ihre – insbesondere kemalistische – Vergangenheit hinterfragen, die Mechanismen der Selbstkritik und Verantwortungsübernahme wieder zum funktionieren bringen muss. Also, wer an dem Misserfolg verantwortlich ist, sollte seinen Platz räumen. Das, was man von dem Chef der kemalistischen CHP erwartet, sollte die Linke vormachen. Natürlich ist es sehr schwer, in einem Land, in der eine große Bevölkerungsmehrheit sich gegen die Moderne stellt, ein modernistisches Projekt wie die Linke zur Wirkungskraft zu verhelfen. Diese Tatsache jedoch kann eine andere Tatsache, nämlich die Verantwortung der gewählten oder nicht gewählten »Meinungsführer« an der Misere der Linken nicht wettmachen.
Zweitens muss die gesellschaftliche und politische Linke in der Türkei die Tatsache erkennen, dass eine linke Integration ohne die Hinzuziehung der kurdischen Bewegung nicht möglich sein wird. So wie ich von der DTP den Verzicht auf das Recht, sich separat zu organisieren erwarte, erwarte ich von der türkischen Linken dieses Recht der kurdischen Bewegung ohne wenn und aber zu unterstützen, gegen den Nationalismus zu kämpfen und den Organisationsfetischismus zu überwinden. Auch die Linke muss endlich begreifen, dass eine Partei kein Selbstzweck ist.
Drittens; die gesellschaftliche und politische Linke muss wieder die Politikfähigkeit erlangen. Eine Politik, die heute und hier beginnt, die alltäglichen Sorgen der Menschen ernst nimmt, die gesellschaftlichen Realitäten beachtet und auf Emanzipation, soziale Gerechtigkeit, Frieden und Demokratie zielt, kann die Linke aus der Sackgasse führen helfen und wichtige Chancen für einen antikapitalistischen Kampf eröffnen. Ein Verständnis, dass die ideologischen Unterschiede ohne sie in den Vordergrund zu stellen, akzeptiert und die Linke in ihrer Gesamtheit anerkennt, kann für die Erlangung der wirkungsvollen Politikfähigkeit einen wichtigen Beitrag leisten.
Eine solche Linke, die die neuen Chancen der Wahlen erkennen kann, könnte gemeinsam mit der kurdischen Bewegung der Motor eines breiten gesellschaftlichen Bündnisses sein. Wie Seyfi Öngüder es beschrieben hat: wenn »Ein breites Spektrum von der kurdischen Bewegung bis zur Bewegung 10. Dezember« sich zusammenraufen und ein »ganzheitliches Zukunftsprojekt« ausarbeiten würde, könnte diese Bewegung die Stimme der Opfer des Neoliberalismus, des Kapitalismus und der nationalen Unterdrückung sein und für den Kampf um soziale Gerechtigkeit, Frieden und Demokratie einen heute ungeahnten Beitrag leisten.
Die Linke könnte lange Jahre marginal bleiben oder wie heute, fern ab jeder Hegemonie sein. Aber die Linke wird immer eine gesellschaftliche Notwendigkeit bleiben, auch wenn die Gesellschaft oder die Arbeiterklassen dieser Notwendigkeit nicht bewusst ist. Das Leben kann solche Dynamiken freien Lauf geben, so dass Imperien, die ewig andauern sollten, von heute auf Morgen gestürzt werden. Kurzum, die Geschichte hat kein Ende. Die Linke, die m. M. n. sich immer erneuern und immer neu gründen muss, ist gehalten, mit diesem Bewusstsein sich auf die Zukunft vorzubereiten- Die Zukunft wird Heute begründet. Das was die heutige Türkei braucht, ist der Frieden und die Demokratie. Die Herausforderung und Aufforderung für Demokraten, Linke, Sozialisten und Marxisten ist der Einsatz für die Schaffung eines breiten gesellschaftlichen Bündnisses für Frieden und Demokratie sich einzusetzen.
Am 4., 18. und 25. August 2007 veröffentlicht in der Tageszeitung »Yeni Özgür Politika«